Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
Vom Netzwerk:
»Soja Nikolajewna! Ich bitte Sie, nicht als Direktor, sondern als Mann: Hören Sie auf, diese Ihre fliederfarbene lange Unterhose zu tragen. Sie steht Ihnen nicht.« Soja Nikolajewna wurde feuerrot. Sie wollte vor Scham am liebsten im Boden versinken. Nicht als Direktor, sondern als Mann. Ich bitte Sie. Sie lag im Bett und las Ehrenburg, konnte sich aber nicht recht konzentrieren. Vor ihrem inneren Auge stand der Direktor: mit schrägen Stirnfransen, mager. Soja Nikolajewna versuchte, sich über ihre Gefühle klar zu werden. Die fliederfarbene lange Unterhose zog sie ein für alle Mal aus. Sie fand Verwendung dafür im Haushalt.
    Am Morgen kam ein Arbeiter. Er kam so früh, als hätte man ihn geträumt. Mit einem weißen Seil in der Hand. Er lief quer durchs Zimmer und öffnete die Balkontür, wodurch er Feuchtigkeit und Wind hereinließ. Auf dem Balkon peilte er die Lage und stürzte sich in den Kampf mit dem mannshohen fünfzackigen Stern, an dem Glühbirnen wie Augen klebten. Er überwältigte ihn nicht sofort, und bis er ihn endlich angebunden hatte, lief er ganz rot an. Der Hausbesorger brüllte gequält etwas von der Straße hoch. Der Arbeiter kam, nass von dem schlechten Wetter, schwitzend, geschwächt nach der Schlacht, zurück ins Zimmer und bat um etwas zu trinken.
    »Und was gefällt Ihnen im Bereich der Filmkunst?«, schmeichelte sich Isja Moissejewitsch bei ihr ein. »Ich mag den Film Alexander Newski «, antwortete Soja Nikolajewna nach kurzem Nachdenken. In der letzten Zeit nörgelte der Direktor ständig an ihr herum. »Das Klassenbuch führen Sie nicht korrekt, und an der Wandzeitung beteiligen Sie sich aus irgendeinem Grund auch nicht.« Einmal öffnete sie während des Unterrichts die Tür zum Korridor. Er stand da und lauschte. Er blickte ihr ins Gesicht und ging weg, ohne etwas zu sagen. Er hasst mich und will mich rauswerfen, dachte Soja Nikolajewna, rollte sich auf ihrem Bett ein und schluchzte. Währenddessen heizte Soja Nikolajewnas jüngerer Bruder, der mit ihr in einem Zimmer wohnte, den Ofen. Ein kleiner Lümmel, der Schrecken des Treppenaufgangs. Er hörte, wie sie schluchzte, und drehte sich um. Im Vorbeigehen gab er der Schwester einen Klaps auf den dicken, fleischigen Po und sagte wiehernd: »Verknallte Alte!« – »Idiot!«, rief Soja Nikolajewna kläglich wie ein verletzter Vogel.
    Dem Arbeiter gab man Wasser aus der Leitung. Er hatte Zeit, sich umzusehen: ein teurer Fernseher mit einer Vergrößerungslinse, obendrauf irgendein Musketier mit Degen und kurzer Hose, in einem vergoldeten Rahmen ein Bild, auf dem ein Mimosenstrauß, ein Messer und eine Zitrone gemalt waren. Den Kopf auf die Faust gestützt, beobachtete ein verschlafener kleiner Junge im Pyjama mit schwarzen Augen unverwandt den Arbeiter von seinem Bett aus. Über dem Bett an der Wand steckten in den Löchern von Nägeln, an denen irgendwann ein alter staubiger Teppich gehangen hatte, dünne Stöckchen mit roten Fähnchen. An jedem Feiertag dekorierte der Junge in Nachahmung der Straßen draußen die Wand: mit Sternen, Losungen und Führerporträts, und auf dem Bett stellte er eine Parade mit Zinnsoldaten und lädierten Schachfiguren nach. Bei den Pferden waren die Mäuler überhaupt ganz abgebrochen.
    »Einen Dreck hat er gemacht, der Teufel soll ihn holen!«, rief Großmutter empört, während sie den Boden aufwischte, nachdem der Arbeiter gegangen war.
    Der Junge brach sich fast die Finger ab, als er die Uniformhose zuknöpfte. Kurz vor dem Weggehen gab es Krach: Großmutter befahl, die neuen Gummigaloschen über die Stiefel zu ziehen. Sie hatte schwache Nerven, auf die sie stolz war. Großmutter hatte die Blockade überlebt. Schäumend vor Wut, schubste sie den Jungen vor die Wohnungstür, in Galoschen, ohne sich zu verabschieden. Mit den Tränen kämpfend, trat der Junge gegen die eiserne Lifttür, um den Fahrstuhlführer zu rufen. Während der sich nach oben in Bewegung setzte, streckte Großmutter den Kopf aus der Tür, schon wieder fröhlich und jung. Der Junge hätte sie am liebsten erstochen.
    »Petrowitsch«, sagte Großmutter zu dem alten Fahrstuhlführer, der eine zerschlissene Uniform von weiß Gott welcher Armee trug. »Hier ist noch Schtschi drin. Zu schade zum Wegschütten. Aber den Topf bitte zurück. Und du sei ein artiger Junge«, sagte Großmutter zärtlich.
    Der Fahrstuhlführer lächelte mit zahnlosem Mund und verbeugte sich. Während er mit dem Jungen nach unten fuhr, hob er ein wenig den Deckel

Weitere Kostenlose Bücher