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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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dies und das. Aber ihr Hauptziel ist es, Geld zu sparen. Sie sparen an allem. Zurückblickend frage ich mich: Warum haben sich gerade meine Eltern grundlegend verändert und Europa in sich aufgenommen, während die anderen größtenteils dieselben geblieben sind? Sich genauso anzogen wie in Moskau, sich zu Hause auf dem Küchenschemel die Haare schneiden ließen und mistige sowjetische Zigaretten qualmten, während Vater, der damals noch stark rauchte, sofort zu französischem Tabak überwechselte und »Tabac de troupe« rauchte, einen starken gallischen Armeetabak. Woher kam bei meinen Eltern diese Wandlungsfähigkeit?
    Viele Jahre später haben mir verschiedene Leute immer gern zwei Dinge wiederholt: Meine Revolte sei ein Resultat mangelnder Liebe (meiner Mutter) und meine Weltsicht habe ihren Ursprung in meiner Pariser Kindheit. Ersteres ist Unsinn: Mamas hysterische Ängste, ich könnte ein Einfaltspinsel werden, weckten meine sehr tief gelagerten Begabungen und knackten meine Faulheit. Mamas mit den Jahren entwickelte, erstaunliche Fähigkeit, nahe stehenden Menschen (nicht nur ihnen) Gemeinheiten ins Gesicht zu sagen, schockierte oft ihre Schwiegertöchter, mir aber half sie damit auf die Beine. Letzteres ist die reine Wahrheit, die übrigens eine merkwürdige individuelle Nuance besitzt. Nimmt man statt der Erwachsenen die Kinder, so kam – in der sowjetischen Schule am Bois de Boulogne – eine ansehnliche Zahl zusammen. Aber niemand war von Paris so geprägt wie ich. Diesen kleinen sowjetischen Parisern begegnete ich später fast nie mehr wieder, und die zwei oder drei, die mir über den Weg liefen, kann ich wirklich nicht des Vaterlandsverrats verdächtigen. Während meine Eltern sich in Paris grundlegend veränderten, ging ich, so fürchte ich, noch wesentlich weiter. In Paris habe ich meine Heimat für mein ganzes noch folgendes Leben verraten. Ich verriet nicht mein kindliches Moskau, das nur für mich existiert, sondern das Land, in dem ich mich nie ganz zugehörig gefühlt habe, obwohl ich mich zunächst sehr darum bemühte. Ich verriet meine Heimat, ohne es zu bemerken: leicht und frei.
    *
    Ich verstehe bis heute nicht, wie das passiert ist. Eigentlich verirrte sich sehr wenig Frankreich in mich hinein. Ich lebte am äußersten Rand von Frankreich, doch ging es völlig und ganz in mich ein, überschwemmte mich. Als Botschaftsrat für Kultur hatte Vater die Möglichkeit, selbstständig das Land zu bereisen. Wir fuhren nach Cannes zum Filmfestival. Wir übernachteten unterwegs in kleinen französischen Gasthäusern. Zum Frühstück aßen wir Croissants, Erdbeer- und Aprikosenmarmelade, tranken café au lait . Das erwies sich als ausreichend.
    In Paris ging ich in die sowjetische Grundschule. Das war ein sehr merkwürdiger Ort, wo in einem Raum die erste zusammen mit der dritten Klasse unterrichtet wurde und in einem anderen die zweite mit der vierten. Einmal besuchte uns Valentin Katajew mit dem Gesicht einer freundschaftlichen Karikatur (damals wurden gern solche Karikaturen von Schriftstellern gemacht). Offenbar hatte man ihn genötigt. Die Schüler lärmten auf halber Lautstärke, aber ich stützte meine Schläfe in die Faust und war bereit, ihm aufmerksam zuzuhören. Der Autor des Romans Der Sohn des Regiments sprach über etwas, das einer langen schwarzen Katze ähnelte.
    »Aber das versteht ihr noch nicht.«
    Ich behielt die Katze und »das versteht ihr noch nicht«, alles Übrige vergaß ich. Das war der erste Schriftsteller, den es zufällig mit einer langen schwarzen Katze in mein Leben verschlug. Die beiden Lehrerinnen widmeten eine halbe Schulstunde den Kleinen und eine halbe den Großen. Schlechte Noten gaben sie überhaupt nicht. Kirilla Wassiljewna war nicht nur Lehrerin, sondern auch Direktorin. Ich war insgeheim in sie verliebt. Außer in sie war ich noch insgeheim in ein namenloses Mädchen verliebt, das ein Jahr älter war als ich. Als sie abreiste, verliebte ich mich insgeheim in ein anderes Mädchen, das ebenfalls namenlos und ein Jahr älter war als ich. Im Hof der Botschaft in der Rue de Grenelle sammelte uns immer ein Bus ein.
    »Habt ihr die Halstücher abgenommen?«, fragte der Busfahrer.
    Wir liefen mit roten Halstüchern herum, aber während der Fahrt durch ganz Paris mussten wir sie abnehmen, da die Botschaft Provokationen gegen die sowjetischen Kinder befürchtete. Ich besaß kein richtiges Halstuch, es hatte nicht die richtige Farbe, Klawa hatte es aus dunkelrotem

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