Der gute Stalin
französischem Material genäht, es ähnelte eher einem Cowboy-Halstuch, und als Großmutter mir aus Moskau ein richtiges schickte, war das ein Festtag, nirgendwo bedeutete mir mein Pionierhalstuch so viel wie in Paris. Wir wurden zu Pionieren erzogen, aber ungewollt faulten wir ideologisch ein wenig an, und wenn wir in Paris über die Champs-Élysées fuhren, betrachteten wir begeistert die amerikanischen Autos mit ihren »Stoßzähnen«. Wir waren überzeugt davon, dass bei einem Unfall die Zähne von selbst ausgefahren würden, um das feindliche Auto aufzuspießen.
Die Kinder spielten im Hof der Botschaft. Der Kontakt zu Franzosen war minimal. Manchmal ging ich mit Mama in die Tuilerien, aber da war es ein bisschen langweilig, dort gab es nichts zu tun, außer Eis zu essen, dafür spielte ich am Teich im Jardin du Luxembourg stundenlang mit Segelbooten, die man dort ausleihen konnte. Mama setzte sich auf einen grünen Stuhl, der durchbrochen war wie Spitzen und so schwer, dass man ihn mit Geknirsche durch den Kies ziehen musste, um ihn auf den richtigen Platz zu stellen. Zu der Zeit kostete die Benutzung der Stühle ein paar Kopeken, alte Frauen mit gutem Gedächtnis sammelten das Kleingeld in einem Schüsselchen, wir nahmen einen Stuhl für uns beide, ich brauchte keinen: Über eine niedrige steinerne Brüstung gelehnt, folgte ich mit den Augen meinem Segelboot. Die Uhr an der Fassade des Palais du Luxembourg ging immer vor, die Zeit verflog mit einem Pfeifen, ließ Wind aufkommen, raschelte in den rostroten, angebrannten Blättern der hohen Kastanien mit ihren beschnittenen Kronen, warf die Statuen der französischen Könige um, die mich aus der Ferne beobachteten – kaum war man angekommen, ging die Sonne auch schon unter, Mama klappte ihr Buch zu, faltete die Zeitung zusammen, stopfte die Zeitschrift in ihre Handtasche: höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Dieses Herausfallen aus der Zeit, wo man, vertieft in seine Lieblingsbeschäftigung, alles ringsum vergisst, war mein Kontakt zur aus endlosen Fantasien bestehenden kindlichen Ewigkeit.
Den Diplomatenkindern war es zu jener Zeit verboten, eine französische Schule zu besuchen. Ich lernte Französisch bei einer alten Armenierin, die, obwohl Emigrantin, aus unerfindlichen Gründen zumindest in einen Vorraum der Botschaft eingelassen wurde. Ich nahm bei ihr Privatstunden in dem kleinen leeren Zimmer (das wahrscheinlich für Gespräche genutzt wurde) neben der Pförtnerloge. Sie brachte französische Kinderbücher mit, deren Illustrationen mich beeindruckten, den Kindern passierte immer etwas Übertriebenes: Sie rannten so wild, fielen mit Schmackes hin (dabei flogen den Mädchen die Röcke hoch, und man sah die weißen Höschen), sie weinten so eindrucksvoll dicke Tränen, ohne irgendwie Mitleid mit sich selbst zu haben, dass mir danach die russischen Kinder in den Büchern übertrieben artig vorkamen, wie aus Schnee gebacken. Aber ich hatte nicht viele Stunden bei der Armenierin, und im Unterschied zu meinem jüngeren Bruder beherrsche ich Französisch nicht wie eine zweite Muttersprache. Von meinem Kinderfranzösisch ist mir nur ein kostbares Wort geblieben. Damit beschämte ich einmal zufällig Dubinin, Chruschtschows sowjetischen Dolmetscher, der, als er hörte, dass ich Französisch lernte, zu mir sagte:
»Na, dann sag mal was.«
Er war damals Papas Untergebener und verhielt sich mir gegenüber betont aufmerksam.
»Coccinelle«, sagte ich verlegen.
»Was?«
»Coccinelle«, wiederholte ich noch verlegener. Ich bestand aus pathologischer Schüchternheit, so wie die Gurke aus Wasser.
Ich spürte, wie eine Welle von Verwirrung über die schöne hohe Stirn des zukünftigen russischen Botschafters in Frankreich lief, der 1991 vorbehaltlos und mit offensichtlicher Erleichterung den Putsch gegen Gorbatschow unterstützen sollte.
»Marienkäferchen«, murmelte ich.
*
Sonntags gab es am Anfang der Champs-Élysées immer die »Marktbriefmarke«. Das war für mich das Wichtigste – die »Marktbriefmarke«. In Wirklichkeit hieß es Briefmarkenmarkt, aber ich verdrehte vor Aufregung die Wörter. Mama gab mir einmal in der Woche eine Münze im Werte von 100 damaligen Franc, lächerlich wenig, wofür ich mir etwas kaufen durfte. Bei schlechtem Benehmen gab es gar nichts. Ich konnte mir, wenn ich Geld gespart hatte, entweder Spielzeugsoldaten kaufen oder Autos von »Dinkey toys« oder Briefmarken. Ich wollte natürlich alles haben.
Was Briefmarken angeht, bin
Weitere Kostenlose Bücher