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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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zu locken. Der Junge mit der dunkelblauen französischen Baskenmütze hörte auf zu existieren. Er verwandelte sich mehr und mehr in pure Leidenschaft. Ich liebte französische Rummelplätze, ich liebte Schießstände und konnte sogar so gut schießen, dass die Schießstandbesitzer sich über mich ärgerten, weil ich so viele Preise gewann. Den Briefmarkenmarkt aber liebte ich nicht einfach, für ihn schwärmte ich nicht nur – ich vergötterte ihn regelrecht. Er war meine kindliche Religion. Ich ließ mit halb abwesendem blassem Gesicht meinen Blick über die Tische und Stände schweifen. Die Marken waren mein Sex, mein Schöpfertum, mein Ein und Alles. Seitdem hat sich mein Leben in eine Abfolge von Magneten verwandelt. Mit derselben Besessenheit ging ich als Student in Paris immer wieder in die russischen Buchläden. Der verbotenste Laden der YMCA -Press, der erschütternde antisowjetische Literatur verkaufte und dem gegenüber der KGB , wie man mir Angst machte, eine Wohnung gemietet hatte, um vom Fenster aus die Käufer zu observieren, erschien mir noch jahrelang in meinen Träumen, immer wieder ging ich dorthin. Der Briefmarkenmarkt hat meine angeborene Besessenheit offenbart.
    *
    Vater, der aus der Kultur eine rein politische Wurzel zog, begann in Paris dermaßen aktiv den Westen zu bekämpfen, dass er sich bei den französischen Geheimdiensten den Titel »Spion« erwarb. Froment-Meurice, Botschafter Frankreichs und Vaters Gesprächspartner aus jener Zeit am Quai d’Orsay, beurteilte ihn mir gegenüber viele Jahre später feindselig als knallharten, unzugänglichen Diplomaten.
    Paris strahlte damals im Lichte weltberühmter Stars, und Vater pflegte geschickt Freundschaften mit den nötigen Leuten. Auf sein Konto geht die Moskau-Tournee von Yves Montand nach den Ungarn-Ereignissen von 1956 , ein Gastspiel, das bei vielen Franzosen Empörung hervorrief. Vater kannte Picasso recht gut, reiste zu ihm an die Côte d’Azur, aber noch stolzer war er darauf, dass er die Lenin-Granitbüste eines unbekannten französischen Bildhauers vor der Zerstörung bewahrte; der Führer der Revolution diente dann noch lange als Staubfänger in der »Roten Ecke« der Botschaft. Die Amerikaner waren für Vater die Hauptfeinde. Bei einer Vergnügungsfahrt mit Musik auf der Seine saßen einmal ein paar ausgelassene Burschen in bunten Hemden und mit Biergläsern in der Hand neben uns an Deck und sprachen laut Englisch.
    »Vorsicht! Das sind amerikanische Soldaten, die sich umgezogen haben«, warnte Vater streng. Ich war neun und starrte die Feinde auf Ausgang in heiligem Entsetzen an.
    Zugleich liebte Vater das Leben zu sehr, um den neblig sonnigen Charme von Paris nicht zu bemerken. Er besaß ein natürliches Feingefühl, das sich schlecht mit seiner Ideologie vertrug. Jedenfalls herrschte in meiner Familie kein totalitäres Regime. Im Grunde war es das, was Vater ins Verderben stürzte.
    *
    Ich war der Gott des Krieges. Ich spielte so inspiriert mit meinen Spielzeugsoldaten, dass dies wahrscheinlich das erste Auftauchen einer Muse war, die keine würdigere Verwendung in meiner Kindheit finden konnte, welche endlos weit von jenen familiären Verhältnissen entfernt war, wo das Kind vom Säuglingsalter an als vererbungsbedingt begabt erklärt wird und ihm ständig Dutzende von Augen folgen, damit eines Tages verkündet werde, dass es sich um ein junges Genie handle. Meine Kriegsmuse erschien mir auf dem Fußboden unter dem runden Tisch des Wohnzimmers unserer Pariser Wohnung. Zwei Armeen griffen einander an, ihr Schicksal entschied die Treffsicherheit eines Gummibands, das von meinem Daumen oder einem Bleistift schnellte. Ich war der neutrale Interpret der Rolle des Zufalls. Ich hielt den Sieg auf der einen wie auf der anderen Seite für möglich.
    Die russischen Spielzeugsoldaten jener Zeit, erworben im Moskauer Kaufhaus »Welt des Kindes«, hielten die Beine zusammen und die Hände an der Hosennaht. Alles war grob gemacht, aus staatlicher Produktion, aus einem Stück und auf einheitlichem rundem Fuß. Nur der Fahnenträger mit seinem roten Banner sah anders aus, aber auch bei ihm blätterte rasch die grüne Farbe seiner Uniform ab, und unter der Uniform trat graue metallische Nacktheit zu Tage.
    In Frankreich wurde ein großes Sortiment von Militärs angeboten. Political correctness gab es noch nicht, und man durfte Cowboy und Indianer spielen. Aus demselben Plastik hergestellt, waren sie jedoch moralisch nicht gleichwertig. Die

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