Der gute Stalin
ich Dilettant; was ich dazu sage, hat nichts mit Philatelie zu tun. Meine Eltern und ich gingen zusammen für mich Briefmarken kaufen. Je nach ihrem Wert wurden sie entweder in großen durchsichtigen Umschlägen verkauft, in denen hauptsächlich blasse französische Marken mit der die Nationalflagge haltenden Marianne steckten, verdünnt mit deutschen, belgischen, holländischen, spanischen mit dem fetten eigensinnigen Profil von Franco darauf und manchmal auch vorrevolutionären russischen Marken mit dem doppelköpfigen Adler, oder in kleinen Umschlägen als ganze Serien. Die teuren Marken wurden einzeln verkauft und waren für mich unerschwinglich. Man konnte viele billige Marken auf einmal kaufen, wozu mich meine Eltern vorsichtig ermunterten, und sie dann den ganzen Tag mit einer genetisch veranlagten Geduld einkleben, wie sie meinem Buchhalter-Opa von der Oktober-Eisenbahn (nach Großmutters Überzeugung konnte er den ihm verliehenen Lenin-Orden nicht entgegennehmen, weil ich ihn umbrachte) eigen gewesen war und auch Mamas Mutter Serafima Michailowna, die als Rechnungsführerin in Nowgorod gearbeitet hatte. Man konnte aber auch einige Marken aus den britischen Kolonien erwerben und außer sich sein vor Glück. Ich liebte die Marken aus den englischen Kolonien mit dem König darauf oder der neuen Königin Elisabeth II. mit ihrer Krone, dargestellt in einem Kreis. Eine Insel, die St. Helena hieß, versetzte mich geradezu in Ekstase, mir verschlug es die ohnehin nicht sehr stabile Sprache. Aber nicht weniger begeisterten mich die portugiesischen Kolonien mit ihren Fischen, Schmetterlingen und Tieren aus Angola und Mosambik. Bis heute stellen sich diese Länder für mich mit ihren bunten Briefmarken dar und haben in meinem Bewusstsein alles spätere sozialistische Unglück besiegt. Ich liebte auch die Markenvielfalt der Zwergstaaten wie San Marino, wohin ich später nur deshalb fuhr, weil ich Briefmarken dieses Landes gesammelt hatte, Monaco, Liechtenstein und Andorra. Ich ging einfachen Ideen auf den Leim: Ich liebte dreieckige Marken aus der Mongolei und auch solche ohne Zacken – sie schienen aus der Epoche der Dinosaurier zu stammen. Meine Eltern kauften mir Ordner und Kataloge. Ich suchte aus dem zweibändigen, penibel gemachten, klein gedruckten Katalog die gekauften Marken heraus und registrierte sie, indem ich unter die Beschreibung der Marke mit blauem Stift einen horizontalen Strich zog: gekauft. Die Idee, alle Marken der Welt zu kaufen, erschien mir realisierbar. Im Grunde genommen kaufte ich die Welt auf, und ob die Marken einen Poststempel trugen oder nicht, war mir nicht so wichtig. Die besten Marken sortierte ich in Alben mit kleinen durchsichtigen Aufklebern ein (manchmal gingen auch welche ab), die schlechteren lebten in den Ordnern, säuberlich sortiert, aber ein wenig beengt wie Passagiere zweiter Klasse.
Meine Sammelleidenschaft führte zu einem sinnvollen Ziel, das meine Eltern erfreute. Die Welt wurde mir durch die Briefmarken vertraut und blieb für immer in mir. Das Einswerden mit der Welt machte einen kleinen Kosmopoliten aus mir, der die Länder objektiv beurteilte, einen jungen Komparatisten mit diffusen politischen Orientierungen. Die sowjetischen Marken, die von Großmutter aus Moskau kamen, riefen gemischte Gefühle in mir hervor. Ich wollte gern, dass sie mir gefielen, meine Einstellung zu ihnen war die der Amerikaner zu ihren Gästen: Sie suchen nicht nach Fehlern und wollen diese auch gar nicht sehen, sie werten sie auf, und erst dann beginnt ihre allmähliche Abwertung. Auf den sowjetischen Marken war die mir verständliche Welt der Buchstaben und Geldwerte; die Rubel und Kopeken erfreuten mich. Noch mehr gefiel mir, dass ich Menschen, Orte und Ereignisse darauf wiedererkannte: Puschkin, Tschaikowski, Tschkalow, den Roten Platz, den Sturm auf das Winterpalais – großartig. Aber letzten Endes wurden auch noch andere Dinge daraus ablesbar: Ernsthaftigkeit, Erwachsensein, Befangenheit, Müdigkeit. Sie waren wie Lehrer, die man respektieren muss. Die kleinen waren allzu gesichtslos. Die Jubiläumsmarken mit den Porträts verschiedener Funktionäre waren langweilige Reproduktionen von Bildern. Kein Vergleich zu den Schmetterlingen aus den portugiesischen Kolonien, die viel interessanter waren als die düsteren Marken von Portugal selbst.
Die »Marktbriefmarke« am Anfang der Champs-Élysées war mein französischer Magnet. Was ich mir nicht alles ausdachte, um meine Eltern dorthin
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