Der gute Stalin
des Schriftstellers einen fatalistischen Reif göttlicher Ordnung. Doch der Reif drückt allzu sehr auf den Kopf. Entweder hältst du das aus, oder du schreist. Der russische Schriftsteller befindet sich nie in einem friedlichen Zustand. Er ist erregt. Ihm ist es nicht gegeben, in die zwiespältige Welt von Zufälligkeit und Gesetzmäßigkeit einzudringen, deren musikalischen Rhythmus wahrzunehmen. Die Zufälligkeit bekommt er nicht in den Griff. Er ist ungeduldig. Das Chaos verdichtet sich und ergibt eine Zeichnung, ähnlich der Wolke, welche die Form eines Delfins oder Bären annimmt, je nach individueller Lesart, um sich dann wieder in formlosen Nebel zu verwandeln. Wenn es in der russischen Welt tatsächlich etwas Ureigenes gibt, dann ist das nicht Fuseldunst, sondern es sind die Verflechtungen von Wille und Absurdität, Gesetz und Gnade – heimlichen Anspielungen auf die Unterströmungen des Lebens.
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Sowjetische Clowns und Ballerinas, Schriftsteller und Maler, Musiker und Schauspieler – das war die Pariser Klientel meines Vaters. Mein Papa ist ein Zerberus. Ein nach Moskau geschicktes Chiffrogramm, in dem er einen Künstler als politisch unzuverlässig einstuft, kann diesem das Leben zerstören und ihm ein Reiseverbot einbringen. Vater ist eine wichtige und gefährliche Person. Man wirbt um seine Gunst und Freundschaft.
Papa glaubte, dass sie tatsächlich mit ihm befreundet seien, und einige, wie Leonid Kogan, waren das auch und fanden in ihm einen Gesprächspartner. Papa fuhr mit Kogan durch Paris, um eine einzigartige Geige zu kaufen, und seine detaillierte Erzählung, wie der Geiger dem Instrument lauschte, bringt mich auf den Gedanken, Papa sei in gewissen Momenten bereit gewesen zuzugeben, dass die Welt nicht nur von Politik regiert wird. Sein Lehrer Molotow indessen fand offenbar nicht zu Unrecht, dass in jedem Künstler die Fäulnis stecke und dass freundschaftliche Nähe zu ihnen (wie sie Woroschilow nicht fremd war) gefährlich sei. Den Zerberus musste man sich geneigt machen, um durchzuschlüpfen in eine geschützte Welt, die die großen sowjetischen Musiker, auch wenn sie dies nicht zugaben, mehr liebten als ihre Heimat und ihren Staat. Sie hatten nicht zu vergleichende Leidenschaften: Papa spielte Tennis, womit er schon vor Paris angefangen hatte. Sie hatten ihre Musik, und sie spielten natürlich mit ihm, benutzten ihn, wobei sie hin und wieder hinter zufällige Geheimnisse der verbarrikadierten Staatsmacht kamen.
Als Rostropowitsch und ich 1992 an der Inszenierung von Schnittkes Oper Leben mit einem Idioten arbeiteten, machte er meinem Vater Komplimente, äußerte sich begeistert über ihn als einen Menschen, der so gar nicht einem sowjetischen Schurken ähnlich gewesen sei. Mir war es angenehm, das zu hören, und als ich aus Amsterdam mit Vater in Moskau telefonierte, übermittelte ich ihm die Grüße von Rostropowitsch, und er war sehr stolz darauf. Für ihn waren Rostropowitschs Grüße Zeichen seines Erfolgs im Leben. Im Unterschied zu Mama verstand er wenig von Musik, und ich habe ihn nie selbst zu seinem eigenen Vergnügen klassische Musik auflegen sehen, bestenfalls empfand er Musik als Lebensuntermalung, aber Rostropowitschs Freundschaft schmeichelte seiner Eitelkeit.
Ich lud meine Eltern zur Opernpremiere ein. Ich weiß nicht, was sie in Wirklichkeit über diese Oper dachten, da sich aber die holländische Königin nach dem Finale erhob und stehend applaudierte, konnte man ihre Reaktion vorhersagen. Bei dem anschließenden Bankett traf Papa mit Rostropowitsch zusammen. Sie standen nicht weit von mir entfernt, küssten sich heftig, sogar auf den Mund, wie es schien, klopften sich gegenseitig auf die Schulter und wechselten ein paar Worte. Rostropowitsch stürmte weiter, durch den ganzen Saal, küsste alle ab und stieß auf mich:
»Na, wo ist denn nun dein Vater? Ich möchte ihn sehen!«
»Ihr habt euch doch geküsst!«
»Wann?«
»Gerade eben!«
Rostropowitsch runzelte die Stirn, versuchte, sich zu erinnern, was ihm jedoch nicht gelang, und eine Sekunde später war er bereits nicht mehr zu sehen. Am nächsten Morgen erzählte mir Papa, wie herzlich die Begegnung mit Rostropowitsch gewesen sei.
Die sowjetischen Künstler bewahrte Papa vor dem Sündenfall, die französischen verführte er. Meine Eltern berauschten sich an der Freundschaft mit Yves Montand und Simone Signoret. Die Fotos, auf denen sie gemeinsam an einem warmen, sonnigen Tag vor der Villa der Schauspieler zu
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