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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Held. Und was habe ich davon, alles zurechtgerückt zu haben?
    *
    Darf ich vorstellen: Wladimir Iwanowitsch Jerofejew – eine wichtige Figur der sowjetischen Spionage in Frankreich. Ein unbefangener Historiker der französisch-sowjetischen Beziehungen Mitte des 20 . Jahrhunderts würde möglicherweise meinen Vater in ebendieser Eigenschaft politisch verewigen. Armer Papa! In Frankreich geriet er zwischen zwei Geheimdienste. Was für Schweine, diese Franzosen! Im Oktober 1996 erklärte ihn ausgerechnet L’Express , jene Zeitschrift, die Papa viele Jahre allwöchentlich gelesen hatte, zum Spion.
    Was da mit meinem Vater geschah! Er lag zu der Zeit im Kreml-Krankenhaus, ließ sich sofort vom Chefarzt entlassen und eilte nach Hause, wo er dem französischen Fernsehen ein Interview gab. An seiner unmittelbaren, naiven Reaktion erkannte ich, dass er bis auf den Grund seiner Seele empört war. Eine organisierte Provokation gegen ihn. Da sitzt er im Wohnzimmer in dem gelben Sessel vor der Kamera, in dunklem Anzug und teurer Krawatte, um Widerstand zu leisten, aber Mama erlaubt niemandem, in der Wohnung in Schuhen herumzulaufen, alles wegen der Teppiche und dem Teppichboden, in dieser Hinsicht haben sie Asien bei sich zu Hause, und die Putzfrau kommt nur einmal die Woche, so dass Papa Pantoffeln an den Füßen hat, gute schwarze, wahrscheinlich auch französische, aber trotz allem eben Pantoffeln, die ihm von den Fersen rutschen und überhaupt nicht zu seinem drohenden Aussehen passen, und dieser Schuft von Kameramann, sehe ich, hält auf die Pantoffeln drauf, um meinen Vater vor ganz Frankreich lächerlich zu machen, und ich sitze in einer Ecke des Zimmers, schweige, dabei müsste ich aufstehen und diesem Schuft von Kameramann eine in die Fresse hauen, weil er meinen Vater bloßstellt, aber ich bleibe sitzen, schweige, und er tut mir Leid.
    Ich sitze da und denke darüber nach, dass Papa sich im Grunde nicht von einem Nazi-Diplomaten unterscheidet, der nach dem Krieg auch noch zum Spion erklärt wird, was macht das schon für einen Unterschied, aber das ist kein Nazi, kein Kommunist – das ist mein Vater, mein alternder Vater, mein Vater, den ich 1979 umgebracht habe und der mir das verziehen hat, und ich sehe vor mir, wie Freunde mich einmal in ihrer Wohnung in Mannheim in die hinteren Zimmer führten und mir dort das Porträt ihres Großvaters zeigten, in voller Nazi-Montur, darunter stand ein Strauß frischer Blumen, der jeden Tag ausgetauscht wurde, wie ein Wachtposten, und sie sagten mir, er habe an einer Verschwörung gegen Hitler teilgenommen, aber für mich war die Uniform wichtiger, und ich konnte mich nicht überwinden und Mitleid empfinden. Als das Fernsehinterview vorbei war, erzählte ich ihm das mit den Pantoffeln, und er wurde blass. Er versicherte mir, er sei kein Spion gewesen. Da sagte ich ihm, was ich während des Interviews gedacht hatte, weil ich der Meinung war, dass nur Grausamkeit zur Wahrheit führt. Als ich in Paris war, ging ich zu meinen Freunden von Le Monde . Aber zuvor fragte ich Vater:
    »Warst du wirklich kein Spion?«
    Vater verneinte.
    »Aber du hast doch wahrscheinlich illegal Gelder an die französische kommunistische Partei weitergegeben?«, fragte ich auf gut Glück.
    »Das wohl. Winogradow hat mich bei der Geldübergabe mitgenommen.«
    Le Monde druckte Vaters Dementi. Vater war sehr zufrieden. Ich sagte zu ihm:
    »Was meinst du, gibt es einen Unterschied zwischen einem Nazi-Diplomaten und einem Nazi-Spion?«
    Vater dachte nach.
    »Konnte ein Nazi-Diplomat, Hitler treu ergeben, ein anständiger Mensch sein?«
    »Kaum«, sagte Vater.
    »Nimm Paris während der Besatzung. Siehst du einen Unterschied zwischen einem Ribbentrop-Diplomaten und einem Nazi-Spion?«
    »Was willst du damit sagen?«
    »Für die Franzosen warst du ein Nazi-Diplomat. Nur dass du nicht Hitler, sondern Stalin gedient hast.«
    »Das ist nicht dasselbe.«
    »Das meinst du. Aber für die Franzosen ist es dasselbe.«
    Er stand da, blass, mit bebenden Lippen. Er musste zurück ins Krankenhaus. Aber trotzdem war er froh, dass Le Monde sein Dementi gedruckt hatte.
    *
    Der Spionageskandal, in dessen Zentrum mein Vater geraten war, weitete sich aus. Den Franzosen fiel es wie Schuppen von den Augen. Sie fanden Zutritt zum Archiv des Außenministeriums der Russischen Föderation und lasen unter anderem die chiffrierten Telegramme meines Vaters mit dem Vermerk »Geheim«.
    Niemand hätte sich vorstellen können, auch mein

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