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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Vater in seinen schlimmsten Träumen nicht, dass diese Telegramme aus den fünfziger Jahren irgendwann dem Feind, und mochte es auch der frühere, immer jedoch existente Feind sein, in die Hände fallen würden. Und da war er, der gute Stalin: Vater, der historische Dinosaurier, trat für die Ehre seiner nicht existierenden Heimat ein. In den chiffrierten Telegrammen berichtete er über die Stärke der französischen Truppen in Algerien, über ihre politischen Säuberungen, über Folterungen, außerdem gab er Adressen amerikanischer Geheimdienste in Paris an. Woher wusste er das alles?
    Der französische Historiker Thierry Valton formulierte das Urteil gegen meinen Vater (dem ich politisch schwer widersprechen konnte): »Jeder Diplomat, der sich mit einem politischen Funktionsträger oder Journalisten traf, hatte darüber dem Residenten des KGB einen Bericht zu übergeben. Auf diese Weise wurde jeder sowjetische Diplomat, der im Westen arbeitete, zum Agenten der Geheimdienste. So war es offenbar auch im Fall von Wladimir Iwanowitsch Jerofejew, der in seiner Zeit als Botschaftsrat in der Botschaft der UdSSR in Paris vom 19 . August 1955 bis zum 24 . Juni 1959 ständigen Kontakt zu Charles Ernu unterhielt.«
    Dank sei den Historikern. Jetzt weiß ich, an welchem Tag ich die Champs-Élysées nicht sah.
    »In Frankreich betrachtete man Jerofejew als großen Kenner des politischen und kulturellen Lebens des Landes, und im normalen Rahmen seiner Tätigkeit unterhielt er Kontakte zu Künstlern wie Yves Montand, Claude Hautan-Loras sowie zu Politikern (Léo Amon, Jean de Lipkovski u.a.). Am 24 . April 1957 frühstückte er zum Beispiel mit Charles Ernu im Restaurant ›La Rôtisserie Périgourdine‹.«
    Ich stelle mir lebhaft meinen Vater vor, beim Frühstück (auf Russisch: beim Mittagessen) in einem Pariser Restaurant mit einem Mann, der den Kapitalismus ebenso hasste wie ich den Kommunismus. Als ich, Doktorand am Moskauer Institut für Weltliteratur, französische Diplomaten in ihrer Moskauer Botschaft kennen lernte, hatte ich größte Lust, ihnen irgendetwas Antisowjetisches zu sagen, alle möglichen Geheimnisse auszuplaudern, so dass sie bereits dachten, ich sei ein Spion und Provokateur. Meine von Vater geerbte Naivität trieb mich sogar noch weiter. Ich versuchte, dem amerikanischen Botschafter zu suggerieren, dass sein russischer Chauffeur ganz sicher für den KGB arbeitete.
    Wegen meiner Besuche bei ausländischen Botschaften wurde ich alsbald zum KGB am Kusnezki Most zitiert, wo man mich vage einzuschüchtern versuchte, mir jedoch am Ende des Gesprächs die Mitarbeit anbot. Ich sagte, dass ich mich mit meinem Vater darüber beraten müsse. Seltsamerweise ließen sie sich davon sehr irritieren. Sie rückten mir noch etwa dreimal auf die Pelle. Unter ihnen tat sich ein quirliger junger Mann, ein gewisser Boris Iwanowitsch, hervor.
    »Wir haben alle jungen Schriftsteller erfasst«, brüstete er sich. Ich stellte meine Ohren auf Durchzug, wie ich überhaupt alles, was nicht direkt etwas mit mir zu tun hatte, geflissentlich überhörte. Wir saßen an einem Tischchen in dem bunten Café im Haus der Schriftsteller.
    »Hör mal, kannst du mir bei einer Sache helfen?«
    »Worum geht’s?«
    »Meine Schwester hat sich in Indien mit einem Typen eingelassen. Könnte man sie nicht über deinen Vater zurückholen?«
    »Wieso, darf sie keinen ranlassen?«, fragte ich grob zurück.
    Er brauste auf wie ein kleiner Werwolf. Ich erschrak allerdings auch ein wenig über meinen scharfen Ton. Doch der Sohn eines Botschafters war für so ein kleines Licht eine Nummer zu groß. Zudem war meine Frau Ausländerin, zwar aus Polen, aber eben nicht eine von uns. Einen Unterschied zwischen Ernu und mir gab es allerdings. Er war vom bulgarischen Geheimdienst angeworben worden, man bezahlte ihm Geld für Informationen, und als er das Vertrauen gegenüber den Bulgaren verlor, übernahmen ihn die Russen, und in der Zeit zwischen den beiden Geheimdiensten traf sich Wladimir Iwanowitsch viermal mit ihm. Ich wusste nicht, sagte Papa, dass Ernu vom bulgarischen Geheimdienst angeworben war. Seltsam indessen ist, dass Ernu schließlich französischer Verteidigungsminister wurde.
    Die Franzosen, leichtsinnig wie aus dem Bilderbuch, besannen sich plötzlich und gruben historisch aus, was längst mit bloßem Auge sichtbar war: Frankreich, das Washington zurückwies und mehr als genug eigene Kommunisten hatte, war leichte Beute für Moskau, das alle

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