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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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gestört, aber die Hauptsache ist, er kontrolliert, dass niemand abhaut.
    Durch Europa rast der Zug wie verrückt, in Belgien taucht wie immer ein Bahnhof mit dem Namen HUY auf, was auf Russisch Schwanz bedeutet, Westdeutschland geht auf wie ein Hefeteig. Der Zug fährt in dichtere Schichten der Atmosphäre ein: die Grenze zur DDR . Aber noch einmal wird Nachsicht geübt: am Westberliner Bahnhof Zoo, wo der Zugbegleiter immer nervös wird und beobachtet, wie man für das letzte Geld Bier, Nüsse und Schokolade kauft. Der Zug rattert hart über die Brücke, man sieht die Mauer und die Friedrichstraße – wir sind angekommen. Der Zugbegleiter wird plötzlich sehr schlicht, zu einem ganz anderen: Vom gutmütigen Aufseher verwandelt er sich in einen stoppelbärtigen Gruppenältesten. Wir sind alle gleich, nur er ist gleicher. Grunzend und mürrischen Blicks verteilt er die Pässe – jetzt seht selbst zu, wie ihr zurechtkommt. Die ostdeutschen Grenzer schrauben die Decken ab, leuchten mit Taschenlampen in die Toiletten und sämtliche Ritzen, die Polen verhalten sich gleichgültig in ihren Schirmmützen mit den Adlern darauf, ihnen ist das alles wurscht, draußen gleitet Warschau vorüber mit seinem sowjetischen Kulturpalast, dann Wald, ein Flüsschen, stop! Vor der Grenze zieht sich der Zugbegleiter um und sieht aus wie eine Braut. Gleich kommen die Bräutigame. Wie Sand am Meer. Auf das abrupte Kommando eines Offiziers stürzen sie sich auf den Zug. Mit Getöse fallen die Grenzbeamten mit ihren deutschen Schäferhunden an der Leine in die Wagen ein. Die Passagiere erstarren. Die Schäferhunde drängen sich in die Abteile (alle verlassen ihre Abteile!), springen auf die Betten. Der Zug steht für Stunden – die Fahrgestelle werden ausgetauscht wie die Gesellschaftssysteme. Frauen wälzen sich durch den Gang, fragen, ob man frisches Obst oder Gemüse dabeihabe. Wie eine Strafe kommen leidenschaftslose Zöllner und perverse Zöllnerinnen mit sadistischen Sehorganen statt Augen herein, sie kassieren Frauenzeitschriften ein, wühlen in Koffern herum, in Taschen von Hosen und Jacken, fordern auch mal jemanden zum Aussteigen auf. Die Heimat beginnt. Der Zug setzt sich in Bewegung, und alle, völlig zerrupft nach dieser Filzaktion, schauen mit zitternden Wangen aus dem Fenster. In Brest laufen die Dienstreisenden in ihren Trainingsanzügen über den Bahnsteig, um Bier zu besorgen. Die Heimat riecht nach Shiguljowskoje-Bier. Die Heimat setzt sich aus Leere zusammen. Die weißrussischen Felder. Die russischen Wälder. Der Löffel klappert an das Teeglas in dem Eisenbahn-Teeglashalter. Plötzlich erinnert man sich daran, dass es Holzhäuser gibt. Ewig steht eine Weichenstellerin in Wattejacke mit erhobener gelber Signalflagge an der Bahnschranke.
    In Brest hatten wir nie Probleme – meine Eltern besaßen Diplomatenpässe. Wir wurden respektiert und nicht behelligt. Man salutierte uns. An jenem Tag im Sommer 1958 , als ich von Paris nach Moskau fuhr, endete meine Kindheit.

4
    Vor die Wohnungstür, auf den Fußboden im Flur, legte sie ihre ausgemusterte, hellblaue knielange Unterhose. Nicht so sehr, um sich darauf die schmutzigen Schuhe abzuwischen, sondern vielmehr als Flagge, die von ihrer Machtübernahme kündete. Sie verhüllte die Deckenlampen mit alten Bettlaken, sogar über das Bild im Wohnzimmer hängte sie ein Laken, über die Sofas und Sessel legte sie Lappen – zum Schutz der Möbel. Als meine Eltern nach ihrem Urlaub nach Paris abreisten, veranstaltete Großmutter eine Art Maskierung der Wohnung. Mich ließ sie selbst genähte Sachen anziehen. Mit meiner Kindheit endete auch das Paradies. Ich wurde Großmutter ausgeliefert, ihr überlassen wie ein Kuckucksei. Ich begriff nicht sofort, aber als ich begriff, war ich schon in einem Kinderstraflager, einem Gefängnis für minderjährige Straftäter, gelandet. Ich durfte nicht auf dem Sofa sitzen, aber auf diesen Lappen zu sitzen, hatte ich sowieso keine Lust. Ich durfte sein, was ich in Wirklichkeit nicht sein konnte. Großmutters Nerven waren vollkommen zerrüttet. Sie brüllte. Sie fuhr immer wie wahnsinnig zusammen, wenn das Lüftungsfensterchen aufging. Egal, wie ich mich benahm, es passte ihr nicht, denn die ganze Welt passte ihr nicht. In dieser Welt lebte sie auf Pump, sie hütete Sachen, wie man seine Seele hütet. Sie kämpfte gegen Motten. Daran gab es keinerlei Logik. Meine Eltern musterten später die Sofas und Sessel aus, ohne sie noch einmal anzusehen –

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