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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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ein »entfernter Nachbar« und ein sehr schöner Mann. Papa erzählte ihm, was ihn bewegte. Andererseits hatte auch seine Frau, Galina Fjodorowna, wie meine Eltern dachten, mit dem KGB zu tun, denn als Mama ihr sagte, dass sie mit dem Tabakladenbesitzer ins Theater gingen, tauchten in der Pause plötzlich Lodik und Galotschka im Theatercafé auf – ein bezauberndes Paar – und wurden den Bonners vorgestellt. Da wusste Lodik schon von Papa, dass Bonner nicht bei der Spionageabwehr war, einmal allerdings habe er Papa im Vertrauen erzählt, dass in Frankreich ein Verfahren entwickelt worden sei, Öl in trockener Form zu transportieren.
    »In Form von Granulat«, erklärte Bonner bei Zitronentorte (deren Rezept Mama übernahm) in seiner Wohnung.
    Papas Wachsamkeit war durch jahrelange Erfahrung geschult. Er spürte, dass etwas nicht stimmte mit diesem Trockenöl, dessen Formel Bonner ihm anzubieten bereit schien, es trat eine Pause ein, und Papa war auf der Hut.
    »Ich bin kein Spezialist für diese Dinge«, sagte Papa ruhig, die Gefahr von sich abwendend, »aber wenn Sie wollen, dann gehen Sie doch zur Handelsvertretung.«
    »Interessantes Theater«, reagierte Lodik. »Was hat er gesagt: in Form von Granulat?«, hakte er nach kurzem Überlegen nach.
    Er versprach, alles in Ordnung zu bringen. Eine Stunde später war Lodik beim KGB -Residenten, um sich lieb Kind zu machen. Vielleicht wollte er sich auch an mir wegen seiner Tochter rächen, die ich mit vagen erotischen Vorstellungen in der Badewanne gewaschen hatte. Er war ein weicher Mensch, von seinem Temperament her kein Agent, und man wollte ihn bereits nach Hause schicken, umso mehr, als seine Frau Galina Fjodorowna ihm versehentlich kochendes Wasser aus dem Kessel über die Hose geschüttet hatte, woraufhin er sie zum ersten Mal im Leben mit obszönen Ausdrücken beschimpft hatte, und nun schützte er die Botschaft vor der Anwerbung eines Botschaftsrates.
    Der Resident, den alle kannten, da er sich nicht versteckte und, wenn wir nach Mante fuhren, dort auf dem Rasen saß, Wodka trank und Schaschlik aß, ohne jede Liebe zu Paris, den Seine-Brücken, den Platanen und roten Kastanien, in Gesellschaft von seinesgleichen, »nahen« und »entfernten Nachbarn«, so dass also der Grad seiner Konspiration eher niedrig war, nicht nur für einen auf einem Fest zufällig anwesenden Journalisten von L’Humanité (»Die erkennt man mit bloßem Auge«, flüsterte er Papa zu.), sondern auch für uns Kinder – dieser Resident beschloss, Papa rasch und ohne Aufhebens nach Hause zu schicken. Er witterte, dass Papa seine Hauptaufgabe verkehrt verstand: Er arbeitete in weißen Handschuhen. Im Grunde arbeiteten der Resident und er in demselben Zirkus, nur Papa in weißen Handschuhen und er mit der Peitsche in der Hand. Sie wollten dasselbe erreichen: Alles sollte zusammenbrechen und Frankreich bei null anfangen. Der Botschafter erhielt ein Telegramm.
    »Wolodja, ich verstehe überhaupt nichts, aber du wirst abberufen. Sieh mal.«
    Er zeigte ihm freundschaftlich das Telegramm. Er hätte es ihm auch nicht zu zeigen brauchen. Die Männer sahen sich in die Augen. Sie machten keine leeren Worte.
    »Ich kläre das«, sagte Winogradow entschlossen.
    Botschafter Winogradow setzte sich für Papa ein, aber wie auch im Fall der Kollontai war der Botschafter nicht allmächtig. Der KGB stürzte Vater. Erschüttert, enttäuscht von ihren Freundschaften, von Liebe zu Paris erfüllt, beleidigt, frustriert reisten meine Eltern nach Moskau ab.
    Doch das Außenministerium – die Religion meiner Eltern – ließ sie nicht sterben. Als Papa nach der Ankunft in Moskau bei Gromyko vorstellig wurde, hatte jener allen Grund, gewichtig und mit heuchlerischem Gesicht zu ihm zu sagen:
    »Wir vertrauen Ihnen. Sie werden im Außenministerium arbeiten wie früher auch.«
    Alles war gut. Nur gab es Paris nicht mehr.
    *
    Das Gedächtnis ähnelt einer Leiche. Wohin sind all jene Ereignisse entschwunden, über die ich alle zwei Wochen meinen Eltern in diverse Länder schrieb, wobei ich sorgfältig vermied, über mich selbst zu schreiben? Wo sind Hunderte von Briefen geblieben, die man immer irgendwo hinbringen und jemandem übergeben musste? Zum Belorussischen Bahnhof, immer in Eile kurz vor der Abfahrt des Zuges »Moskau–Paris«, in fremde Wohnungen, zum Smolensker Platz, wo man im gotischen Windfang des Außenministeriums von einem Bein aufs andere trat. Die Gespenster von Oswald Spengler und Danilewski spazieren

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