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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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durch mein Buch. Ich springe von diesem Thema ab. Die Lebenslinie setzt sich aus Geisteslinien zusammen. Damit droht Einsamkeit, die man aber mit diversen Zerstreuungen überlisten kann. Weisheit ist auch eine Sackgasse, wenn man permanent den Unterschied zwischen Glauben und Wissen betont. Weisheit wird auf Dauer öde. Die Aufklärung behindert eine Klärung, aber geistige Enthaltung ist Ermunterung zur Barbarei. Eine Rechnung aus dem Berliner Restaurant »Sale e Tabacchi« über 49 , 50 Euro. Gib einer Frau erst zu essen, und dann fick mit ihr. Vier Gläser mittelmäßigen italienischen Weins. Möchten Sie mit oder ohne Kohlensäure? Ein Fläschchen Evian. Einmal Fasan mit Birne. Ich verstehe es nicht, allein zu leben. Ich brauche die Reflexionen, in die sich meine Verliebtheiten in Frauen verwandelt haben. Ich knipste die Frauen an wie Glühbirnen, bemüht, die Beleuchtung zu wechseln, wenn ich sie zu eintönig fand. Wie sie hießen? Ich kann mich nicht einmal an die Hälfte von ihnen erinnern. Glück ist eine extreme Form von Prüfung im Leben. Wie die Blätter von einem Kohlkopf sind Neid, Bosheit, Eitelkeit von mir abgefallen. Uneigennützig höflich, verwandle ich mich in einen erfolgreichen Strunk. Ich grabe mich ein in den Sternensand.
    *
    Ich zaudere immer noch, dabei ist es höchste Zeit, meine Bücher, Schulbücher, Spielsachen zusammenzupacken und nach Moskau abzureisen – aber ich fahre nicht. Meine Eltern verbringen noch ein ganzes Jahr ohne mich in Paris, bis sie abberufen werden, aber ich muss fahren: An den Ufern der Seine gibt es keine russische Oberschule.
    Ich kannte den Rückweg auswendig, wie »Ich liebe die Gewitter Anfang Mai …« – wenig hatte sich seit Custines Zeiten geändert. Damals, als Schüler, und viel später, als mein Vater nach Paris zurückkehrte, um als stellvertretender Generaldirektor der UNESCO zu arbeiten (die Kultur wollte Vater wie zum Hohn nicht entlassen), und ich wieder die Möglichkeit hatte, in Paris zu sein, empfand ich mit wachsender Deutlichkeit den Rückweg nach Moskau wie die sibirische Verbannung der Bojarin Morosowa.
    Die Hektik des Packens ließ traurige Gedanken nicht aufkommen, aber kaum wurde mein Koffer nach draußen getragen und unter Begräbniszeremonien im Kofferraum verstaut, begann ich tapfer gegen meinen gequälten Gesichtsausdruck anzukämpfen.
    »Was ist denn mit dir los?«, fragten meine Eltern scheinbar im Ernst.
    »Ich möchte nicht weg von euch«, lächelte ich mühsam. Wir fuhren langsam, immer wieder an Ampeln stehen bleibend, über den Boulevard de Sébastopol in Richtung Gare du Nord, die Pariser liefen mit ihren Baguettes federnden Schrittes den Gehsteig entlang, und ich wünschte mir inständig, dass die Eisenbahner anfingen zu streiken oder wir in einen Stau gerieten und den Zug verpassten.
    Auf dem Bahnhof steht ein mit nichts zu vergleichender sowjetischer Waggon, schwer wie ein Panzerwagen, gebaut in der DDR . Der Zugbegleiter ist nicht da. Er steht an einem Kiosk am Anfang des Bahnsteigs. Geil, aber mit gleichgültigem Gesicht, blättert er in einer erotischen Zeitschrift mit nackten Titten drauf. Er kommt zurück, außer Atem. Er hat viele Gesichter. Er sieht aus wie ein Wächter, der einen Schatz bewacht, wie ein Hausmeister, der die Straße fegt, ein Tschekist, ein Humorist, ein Bergadler, ein Soldat, ein Kommandeur. Er ist bereits ganz Russland, in die Paradeuniform des Eisenbahners gezwängt. Sich in die Fahrkarte vertiefend, demonstriert er die byzantinische Langsamkeit des Denkens. Der Weg ist nicht weit. Europa ist nicht die Transsib. Der Abschied ist verlogen. Du öffnest das obere Viertel des Fensters, wo du den Kopf sowieso nicht durchstecken kannst, und winkst zerstreut den Eltern zu, die dir ihrerseits fürsorglich bis zu deinem endgültigen Verschwinden zuwinken.
    Wir haben das Spinnennetz der Gleise um den Bahnhof herum noch nicht verlassen, da schließt der Zugbegleiter auch schon alle Türen ab. Aus dem Spaßvogel wird ein Gefängniswärter, der Tee in Gläsern mit metallenen Teeglashaltern austeilt. Normalerweise ist es der letzte Wagen. Man kann auf die hintere Plattform hinausgehen und sich in einen Rückspiegel verwandeln. Jetzt werden wir durch Frankreich, Belgien, Westdeutschland fahren – auf dieser Strecke behält der Zugbegleiter die Reisepässe bei sich, angeblich um das Wohl der Fahrgäste besorgt –, die westlichen Grenzer bekommen von ihm die Pässe, in die sie ihre Stempel drücken, man wird nicht

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