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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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sie nahm sie zu sich nach Hause.
    Die Beziehung zu meiner Großmutter ging innerhalb weniger Tage zum Teufel. Früher war sie meine geliebte Oma – jetzt meine Peinigerin. Kinder mit nach Hause zu bringen war verboten – es hätten ja Diebe und deren Helfershelfer sein können. Großmutter schloss mich wie Tomaten in einem Einmachglas ein. Ich schwamm ein ganzes Jahr lang darin herum. Ich versank in verzweifelter Einsamkeit, die mich offenbar rettete – ich versank in mir selbst. Großmutter hatte wie ich die vierte Klasse abgeschlossen. Von meinem Schulstoff verstand sie gar nichts. Sie kontrollierte die Noten.
    Meine Eltern schickten mich auf eine normale Schule, die Schule Nr. 122 , die sich in der Palaschewski-Gasse in der Nähe des Puschkin-Platzes befand, wo ich schon in die erste Klasse gegangen war. Diese Schule besuchte auch der Dissident Bukowski, aber er war älter als ich, und ich kannte ihn damals nicht. Als Bukowski und ich uns später in Cambridge begegneten und die ganze Nacht Rotwein tranken, erinnerten wir uns an die Lehrer, an die stellvertretende Direktorin und Geografielehrerin mit dem Spitznamen »Stockfisch«. Ich hätte auch auf eine Schule für privilegierte Kinder geschickt werden können, was zum Beispiel die Podzerobs taten. Ich weiß nicht, was dabei herausgekommen wäre. Alexej, der an meinem Geburtstag mit Tomatensaft auf Stalin anstieß, wurde Diplomat, der andere Sohn drogenabhängig. Ich freundete mich mit dem zukünftigen Rauschgiftsüchtigen Kirjuscha an. Ich fand ihn interessant, und er war mir sozial nahe. In meiner Schule gab es viele Kinder aus den Kellerwohnungen der Seitengassen und den Gemeinschaftswohnungen der Gorki-Straße. Bei der Hälfte der Klasse heizte man zu Hause noch mit Holz. Meine Klassenkameraden kamen mir vor wie Landstreicher, wie kleine Clochards.
    Der Unterschied zwischen Paris und Moskau war so eklatant, so betäubend, dass Moskau mir als fantastische Stadt erschien, die es eigentlich gar nicht gab. Ich machte mich auf, das Nichtsein zu erforschen. Zusammen mit Kirjuscha stromerte ich abends durch die Stadt. Er zeigte mir die gefährlichen Stellen. Meiner Meinung nach waren alle Stellen gefährlich. Im Viertel Krasnaja Presnja brannten die Mülltonnen. Von der Schule durch die Seitengassen nach Hause zu gehen war riskant. Oft hielten uns irgendwelche Rumtreiber an:
    »Habt ihr Geld?«
    Wenn wir nein sagten, ließen sie uns hüpfen. Dann klimperte das Kleingeld in der Hosentasche, und sie schlugen uns, weil wir gelogen hatten, und nahmen es uns weg. Wenn nichts klimperte, schlugen sie uns trotzdem. Ich begriff rasch, was nicht vermittelbare Erfahrung bedeutet. Niemand verstand, was das heißt – Paris. In der wärmeren Jahreszeit wurde in den Pausen auf dem Schulhof mit Schädeln Fußball gespielt. Wo die Schule stand, war früher ein Friedhof gewesen, und in der Gasse hatten irgendwann die Henker gewohnt. Wer besser angezogen war, den mochte man nicht; ging jemand mit Hut vorüber, schrien alle:
    »Da kommt ein Hut!«
    Die Briefmarkensammlung siechte dahin. Vor den jungen Schwarzhändlern, die in Toreinfahrten auf dem Kusnezki Most in der Nähe des Geschäfts »Philatelie« illegal englische Kolonien verkauften, hatte ich Angst. Dafür wurden in den Bäckereien leckere Kalatschi verkauft. Das Leben geriet zum Vergleich. Im Winter gab es auf den Patriarchen-Teichen eine Eisbahn – das hatten wir in Paris nicht. Wenn man es schaffte, sich an den Rumtreibern vorbeizuschmuggeln, konnte man da Schlittschuh laufen. Aber auch dort lungerten welche herum. Sie prügelten sich gekonnt auf ihren Schlittschuhen und machten die Mädchen an. Mich verprügelten sie selten, ich war mutig. Aber ich prügelte mich nicht gern. Auf den Gängen liefen zwei schreckliche Oberstufenschüler herum. Einmal verpassten sie mir eine mit der Faust ins Gesicht – einfach so. Es tat weh. In meinem Herzen hatte ich Kirilla Wassiljewna, ihr lichtes nacktes Bild in der Badewanne ließ mir keine Ruhe. In der Schule gab es auch Erotik. Wir beobachteten heimlich die Mädchen, die sich vor der Turnstunde umzogen. Aber die Mädchen trugen seltsame rosabraunhimbeerfarbene lange Unterhosen, sie rochen nach Armut, hatten Wanzenbisse, sie waren krankhaft blass. Das Einzige, womit ich der Schule dienen konnte, war Kaugummi. In Paris hatten meine Eltern mir kein Kaugummi gekauft, aber in der Schule Nr. 122 träumten alle nur von amerikanischem Kaugummi. Einmal war Kolja Maximow bei mir zu Hause,

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