Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
Vom Netzwerk:
entdeckte in der Küche kleine Dinger, die aussahen wie Kaugummi, und steckte sie in den Mund. Es war französischer Klebstoff und kein Kaugummi. Ich sehe ihn bis heute vor mir mit verklebtem Mund.
    Wäre ich raffinierter gewesen, hätte ich wahrscheinlich die Rumtreiber bestochen, aber ich hatte keine raffinierte Ader. Ich wurde kein Zyniker, sondern ein kleiner Johannes der Täufer, der allen und jedem versprach, dass Moskau eines Tages in einem Meer von Lichtern und Leuchtreklamen erstrahlen, die Perestroika, und ein neues Leben beginnen wird. Man sah mich an wie einen Irren. Mein Moralismus weitete sich aus, reifte mit jedem Jahr. Ich predigte eine andere, höhere Lebensqualität, wo es keine aggressiven Typen, keine Armut und keine Wanzen geben würde. Mama hat diese Predigermentalität bis heute bewahrt. Zu ihrer Lebensreligion ist das französische Vorbild geworden, zu ihrem Gott die diplomatische Etikette. Bei alldem hatte sie mir nicht beigebracht, richtig mit Messer und Gabel zu essen. Ich beugte mich über den Suppenlöffel fast bis auf den Teller, schlürfte geräuschvoll den heißen Tee. Ein schlechter Arzt, der sich erst selbst kurieren muss. Das Lernen war eine zähflüssige Qual. Es gab in meinem Leben keine langsamer vergehende Zeit als meine Schulstunden. Die Zeiger auf der quadratischen Uhr über der Tür klebten am Zifferblatt. 45 Minuten erschienen mir wie eine Ewigkeit. Heute sehne ich mich manchmal nach dieser sich dehnenden Zeit.
    *
    Als Mama mich, nach ihrem letzten in Paris verbrachten Jahr, auf dem Belorussischen Bahnhof erblickte, fasste sie sich an den Kopf, statt mich zu küssen. Kaum dass wir zu Hause angekommen waren, versah sie mich von Kopf bis Fuß mit Pariser Sachen. Das Leben mit den Eltern war leichter. In der Schule hatte ich mich eingewöhnt. Zu meiner Lieblingsbeschäftigung war das Eiskaufen im GUM geworden. In Sowjetzeiten gab es im GUM märchenhaft gutes Eis. Es wurde in Waffelbechern zu zwanzig Kopeken verkauft (nach der Geldreform von 1961 ). Die Becher lagen auf großen Blechen: Es gab die Sorten Erdbeere, schwarze Johannisbeere, Crème brûlée oder auch einfach Vanille. Nina Sergejewna, die Frau des Prawda -Korrespondenten in Paris, sagte:
    »Wenn man bei uns alles auf dem Niveau machen würde wie unser Eis, dann würden wir schon im Kommunismus leben.«
    Aus irgendwelchen Gründen geschah dies jedoch nicht. Neben dem Eis war da der Sommer. Wir fuhren auf die Datscha. Auf dem Gelände in Tschkalowskaja wuchsen hohe Birken. Es war ein von Mitarbeitern des Außenministeriums okkupiertes Landgut. Sie spielten da Tennis. Dort waren sogar ehemalige »englische« Spione mit mageren sommersprossigen Gesichtern und Beinen – sie hatten unserem Land die Geheimnisse der Atombombe verkauft und spielten nun in aller Seelenruhe Tennis. Es schüttete wie aus Eimern. Ein richtiger Wolkenbruch. Alle zwängten sich in den großen Vorraum des Speisesaals. Ich stand direkt vor der Tür, den Geruch des Regens einatmend. Ich habe immer schon diese Grenze gemocht, zwischen Wärme und Kälte, Lüge und Wahrheit. Die Schwelle ist meine normale Heimat. In die dunkelste Ecke des Vorraums gedrückt, standen abseits zwei mittelgroße Menschen, die niemand, wie ich spürte, beachten wollte. Einer von beiden war Molotow, der Organisator sowjetischer Kolchosen, ein Mann des Universums. Neben ihm Polina Shemtschushina, die als Letzte Stalins Frau lebend gesehen hatte. Der Regen hörte auf. Alle strömten in die nasse Natur hinaus. Meine Eltern, empört über die menschliche Gemeinheit, traten auf die ehemaligen Hausherren zu. Die hatten meine Eltern irgendwann einmal zu sich auf die Datscha in Sotschi eingeladen. Nach dem Regen beschlossen meine Eltern, sie zu einem Spaziergang aufzufordern. Dicke Wassertropfen fielen von den Birken. Meine Eltern erzählten vom Leben in Paris. Molotow sagte zerstreut:
    »Tatsächlich?«
    Die Shemtschushina lobte aufgeregt Chruschtschow, den Mann, der Molotow ins Abseits geschoben hatte. Molotow verlor alle seine Posten, da er von ihm zum Anführer einer prostalinistischen parteifeindlichen Gruppierung erklärt worden war; sein Sekretariat löste man auf. Nach diesem tiefen Fall wurde Molotow unser Datschanachbar.
    Auch als Polina Semjonowna aus dem stalinistischen Gefängnis zurückkam, hielt sie dem Führer die Treue bis ans Ende ihrer Tage. Meiner Mutter wollte das nicht in den Kopf. Einmal verbrachte sie drei Tage mit Polina Semjonowna in einem Zimmer des

Weitere Kostenlose Bücher