Der Händler der verfluchten Bücher (German Edition)
ihm? Sie war doch nicht seine Mutter! Doch es war auch nicht richtig, sie so unhöflich zu behandeln. Schließlich verließ er das Bett und ging zu ihr. Sobald er in ihrer Nähe war, ging mit ihm eine merkwürdige Veränderung vor. Er kam sich vor, als sähe er das Bildnis einer trauernden Göttin oder Madonna. Ein seltsames Gefühl, als stünde diese Frau auf einer winzigen Insel inmitten eines riesigen Ozeans. Nun konnte Uberto sich nicht mehr zurückhalten.
»Wie haltet Ihr das nur aus, Herrin?«, sagte er bestürzt. »Wie könnt Ihr so ein Schicksal hinnehmen?«
»Mein Leben besteht eben einzig aus Warten«, erwiderte sie mit einem traurigen Lächeln. »Mit ein paar flüchtigen Momenten des Glücks. Wie diese Pflanzen hier, die nur kurz blühen und den Rest des Jahres kahl und schmucklos sind.«
»Aber er … Ignazio …«, stammelte Uberto.
»Ignazio geht es schlechter als mir. Ihm wurde die schwerere Bürde auferlegt: Er muss immer auf der Flucht sein, denn durch seine Nähe gefährdet er die Menschen, die er liebt. Seine Verfolger lassen nicht von ihm ab, seit Jahren irrt er nun schon ruhelos durch die Welt auf der Suche nach einem Ausweg.«
Uberto suchte nach Worten, aber es gab nichts, was er darauf erwidern konnte. Er starrte die schöne Frau an, die auf der Schwelle seines Zimmers stand.
Wie viel Kraft brauchte man wohl, um auf dieser Insel der Einsamkeit zu leben?
Ignazio und Willalme standen vor dem Stall und bereiteten ihre Abreise vor. Pablo half ihnen, einen zweispännigen Karren fertig zu machen, und während er das Geschirr überprüfte, grummelte er vor sich hin: »Aber patròn , Ihr seid doch gerade erst gekommen, und jetzt geht Ihr schon wieder …«
Der Händler lächelte bitter, ohne auf Pablo einzugehen. Er erklärte Willalme gerade, dass es besser wäre, mit dem Karren weiterzureisen, da die Erleuchteten nach drei Reitern suchten und nicht nach einem zweirädrigen Planwagen.
»Außerdem«, fuhr er fort, »vergiss nicht, dass sie hier fremd sind. Das sind Männer aus dem Norden, und wahrscheinlich fühlen sie sich hier etwas verloren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie hier auf viel Unterstützung hoffen können.«
Währenddessen waren Sibilla und Uberto zu ihnen gekommen. Ignazio ging auf die beiden zu und umarmte sie.
Er streichelte Sibilla zärtlich übers Gesicht, strich eine Locke zurück, die ihrem Nackenknoten entkommen war, und sah ihr dann tief in die tränenfeuchten Augen. Bevor sie etwas sagen konnte, legte er ihr einen Finger auf den Mund. Er wollte sie nicht weinen sehen.
»Ich komme zurück. Alles wird gut werden«, sagte er und löste dann seinen Blick. »Das verspreche ich dir.«
Sie nickte.
»Kümmere dich um den Jungen«, sagte er und lächelte ihr aufmunternd zu.
Willalme war bereits auf den Karren gestiegen und grüßte schweigend. Der Franzose war nicht an Abschiede gewohnt. Er wartete, bis der Händler neben ihm saß, dann gab er den Pferden die Zügel.
Uberto zog sich verdrossen zurück.
Sibilla blieb reglos vor dem Stall stehen, bis der Karren am Horizont verschwunden war.
FÜNFTER TEIL
AMEZARAKS SCHWANZ
UND DER STAB DES HEILIGEN
»Er hält also mit Recht die Magier für strafbar; allein ihre Wunder geschehen allesamt nach den Anweisungen und unter Mitwirkung der Dämonen.«
Augustinus von Hippo, »De civitate Dei«, VIII , 19
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Eine halbe Tagesreise später hatte der Karren die Straße erreicht, die nach León führte. Willalme saß auf dem Bock und hielt die Zügel fest in der Hand. Ignazio neben ihm wirkte heiter. Er sah schweigend nach vorn, hing seinen Gedanken nach und verbarg seine Trauer über den Abschied.
»Wohin reisen wir?«, fragte der Franzose.
»In León werden wir uns mit Graf Dodiko treffen und dann zur letzten Station aufbrechen, die uns das Rätsel gewiesen hat. Wir sind auf dem richtigen Weg.«
»Ist es noch weit bis zum nächsten Teil des ›Uter Ventorum‹?«
»Im lateinischen Rätsel des Engels Amezarak heißt es ›Asclepius servat aenigma Campi Stelle‹ , also ›Asclepius bewahrt das Rätsel im Sternenfeld‹.«
»Das Sternenfeld. Ist das wieder so ein Wortspiel?«
»Nein. Damit ist ganz sicher die Stadt Compostela gemeint. Sie erhielt diesen Namen vor dreihundert Jahren, als ein Stern einigen Hirten enthüllt haben soll, dass sich dort das Grab des Apostels Jakobus befände. Von da an wurde der Ort Campus Stellae genannt, also ›das Sternenfeld‹, und entwickelte sich zu einer Wallfahrtsstätte.
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