Der Hase mit den Bernsteinaugen
für die Reichsfluchtsteuer aufzutreiben, damit sie das Land verlassen können. Manchmal werden ihnen ihre Besitztümer einfach weggenommen. Manchmal mit Gewalt, manchmal ohne, aber immer in einem Gewaber von Bürokratendeutsch, mit Papieren, die zu unterzeichnen sind, einem Schuldeingeständnis, dass sie in Aktivitäten verstrickt waren, die mit den Gesetzen des Reichs unvereinbar seien. Alles und jedes wird dokumentiert; die Liste der Gutmann-Sammlungen umfasst viele Seiten. Die Gestapo nimmt Mariannes elf Netsuke mit, den spielenden Jungen, den Hund und den Affen, die Schildkröte, jene, die sie vor so langer Zeit Emmy gezeigt hat.
Wie lange dauert es, die Menschen von den Orten, an denen sie gelebt haben, abzuspalten? Im Dorotheum, dem Wiener Auktionshaus, findet eine Versteigerung nach der anderen statt. Jeden Tag kommen beschlagnahmte Besitztümer unter den Hammer. Jeden Tag finden all diese Sachen Käufer, die sie billig erwerben, Sammler, die ihre Sammlungen vergrößern wollen. Der Verkauf der Sammlung Altmann dauert fünf Tage. Er beginnt am Freitag dem 17. Juni 1938 um drei Uhr mit einer englischen Standuhr mit dem Big-Ben-Glockenton. Sie geht für bloß dreißig Reichsmark weg. An jedem Tag wird feinsäuberlich durchgezählt, so dass am Ende die eindrucksvolle Zahl von 250 Losen erreicht ist.
So also soll das vor sich gehen. Es zeigt sich, dass in der Ostmark Dinge jetzt mit Akribie behandelt werden sollen. Jeder silberne Kerzenhalter soll gewogen werden. Jede Gabel, jeder Löffel gezählt. Jede Vitrine geöffnet. Die Herkunftszeichen an der Unterseite jeder Porzellanfigur werden notiert. Ein gelehrtes Fragezeichen folgt auf die Beschreibung der Zeichnung eines Alten Meisters; die Abmessung eines Bildes wird genau festgehalten. Und während das vor sich geht, bricht man den ehemaligen Besitzern die Rippen und schlägt ihnen die Zähne aus.
Die Juden sind weniger wichtig als ihr ehemaliges Eigentum. Es ist ein Test, wie man Objekte achtsam behandelt, wie man pfleglich mit ihnen umgeht und ihnen ein ordentliches deutsches Heim schenkt. Es ist ein Test für eine Gesellschaft ohne Juden. Wien ist wieder einmal eine »Versuchsstation für den Weltuntergang«.
Drei Tage nachdem Viktor und Rudolf aus dem Gefängnis entlassen wurden, weist die Gestapo die Familienwohnung dem Amt für Wildbach- und Lawinenverbauung zu. Aus den Schlafzimmern werden Büros. Der Nobelstock des Palais, die Wohnung von Ignaz mit dem Gold und dem Marmor und den Deckenmalereien, wird dem Amt Rosenberg übergeben, dem Bevollmächtigten des Führers für die »Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP«.
Ich stelle mir Rosenberg vor, schlank und gut angezogen, wie er sich über den riesigen Boulle-Tisch in Ignaz’ ringseitigem Salon beugt, seine Papiere vor sich ausgebreitet. Sein Büro ist für die Koordination der kulturpolitischen Ausrichtung des Reichs zuständig, und es ist eine Menge zu tun. Archäologen, Literaten, Wissenschaftler, alle benötigen seine Imprimatur. Es ist April, an den Linden sprießen frische Blätter. Aus den drei Fenstern vor ihm flattern über dem hellgrünen Blätterbaldachin Hakenkreuzfahnen von der Universität und von dem Fahnenmast, den man jüngst vor der Votivkirche aufgestellt hat.
Rosenberg ist in seinem neuen Wiener Büro eingerichtet, über sich Ignaz’ feinsinnig ausgewogener Hymnus auf Zions jüdischen Stolz - sein lebenslanges Vertrauen auf die Assimilation: das grandiose, goldstrotzende Bild der zur Königin Israels gekrönten Esther. Über ihm zur Linken ist zu sehen, wie die Feinde Zions zerschmettert werden. Aber in der Zionstraße soll es keine Juden mehr geben.
Am 25. April findet die feierliche Wiedereröffnung der Universität statt. Studenten in Lederhosen flankieren die Stufen zum Haupteingang, als Gauleiter Joseph Bürckel eintrifft. Es gibt nun ein Quotensystem: Nur ein Prozent der Studenten und des Lehrpersonals dürfen jüdisch sein; ab sofort haben jüdische Studenten nur mit Genehmigung Zutritt; von den 197 Mitgliedern des Lehrpersonals der Medizinischen Fakultät wurden 153 entlassen.
Am 26. April beginnt Hermann Göring seine Kampagne zur »Vermögensumverteilung«. Jeder Jude, der Vermögenswerte von mehr als fünftausend Reichsmark besitzt, ist verpflichtet, dies den Behörden zu melden, oder er wird verhaftet.
Am nächsten Morgen erscheint die Gestapo im Bankhaus Ephrussi. Drei Tage verbringen die Beamten damit, sich
Weitere Kostenlose Bücher