Der Hase mit den Bernsteinaugen
zurück in die Schweiz zu den Kindern.
Als Viktor und Emmy die Grenze erreichen, ist es beinahe unmöglich, in die Tschechoslowakei einzureisen; man fürchtet einen unmittelbar bevorstehenden deutschen Einmarsch. Sie werden aufgehalten. Das bedeutet, dass sie aussteigen und stundenlang in einem Warteraum stehen müssen, während Telefonanrufe getätigt und Papiere konsultiert werden, bevor man ihnen 150 Schweizer Franken und einen ihrer Koffer abnimmt. Dann dürfen sie die Grenze passieren. Ein paar Stunden später kommen Emmy und Viktor in Kövecses an.
Kövecses liegt in der Nähe einiger Grenzen. Das war immer einer seiner Vorzüge, es war ein guter Treffpunkt für Freunde und Verwandte aus ganz Europa, ein Jagdschlösschen, ein Ort der Freiheit für Schriftsteller und Musiker.
Im Sommer 1938 wirkt Kövecses mehr oder minder wie immer, eine bunte Mischung von feudal und leger. Man sieht die Sommergewitter über die Ebene heranziehen, der Wind schüttelt die Weiden am Ufer. Auf einem Foto aus diesem Monat wirken die Rosen weniger gepflegt; Emmy hat sich bei Viktor eingehakt. Es ist das einzige Bild, das ich besitze, auf dem sie einander berühren.
Das Haus ist leer. Die vier Kinder sind in alle Himmelsrichtungen zerstreut: Elisabeth ist in der Schweiz, Gisela in Mexiko, Iggie und Rudolf sind in den USA. Und so warten die beiden jeden Tag auf die Post, warten auf eine Zeitung, warten.
Die Grenzen werden beobachtet, die Tschechoslowakei ist gespalten, und Kövecses liegt der Gefahr einfach zu nahe. In diesem Sommer bricht die Sudetenkrise aus, um die Region im Westen des Landes: Hitler verlangt, die dort ansässige deutsche Bevölkerung solle sich dem Reich anschließen dürfen. Die Lage wird immer unruhiger, ein Krieg droht. In London versucht Chamberlain zu beschwichtigen, er will taktisch vorgehen und Hitler überzeugen, dass man seinen Forderungen entgegenkommen könne.
Im Juli findet in Evian eine neuntägige internationale Konferenz über die Flüchtlingskrise statt: Zweiunddreißig Länder, darunter die Vereinigten Staaten, sind vertreten, doch es gelingt nicht, eine Resolution gegen Deutschland zustande zu bringen. Die Schweizer Polizei, die den Flüchtlingszustrom aus Österreich eindämmen möchte, hat die deutsche Regierung ersucht, ein Symbol einzuführen, mit dem man die Juden an den Grenzkontrollstellen identifizieren könne. Dem wurde entsprochen. Die Pässe der Juden sind ab sofort ungültig, sie müssen bei den Polizeidienststellen abgegeben werden und kommen mit einem daraufgestempelten J zurück.
Am frühen Morgen des 30. September unterzeichnen Chamberlain, Mussolini und der französische Ministerpräsident Edouard Daladier das Münchener Abkommen mit Hitler: Der Krieg ist abgewendet. Die heller gefärbten Bereiche auf der Karte der Tschechoslowakei müssen bis 1. Oktober 1938 abgetreten werden, in den dunkler gefärbten Regionen soll eine Volksabstimmung stattfinden. Die Prager Regierung ist nicht vertreten, als ihr Land zerstückelt wird. An diesem Tag verlassen die tschechischen Grenzbeamten ihre Posten, österreichische wie deutsche Flüchtlinge werden zum Verlassen des Landes aufgefordert. Es gibt erste Judenverfolgungen. Es herrscht Chaos. Zwei Tage später betritt Hitler unter Jubel das Sudetenland. Am 6. Oktober wird eine hitlerfreundliche slowakische Regierung gebildet. Die neue Grenze verläuft nur etwa dreißig Kilometer vom Haus entfernt. Am 10. ist die deutsche Annexion vollendet.
Erst vier Monate ist es her, seit sie in Wien auf den Ring hinausgetreten sind, um zum Bahnhof zu gehen und zu entkommen. Und nun stehen deutsche Soldaten an jeder Grenze.
Emmy stirbt am 12. Oktober.
Weder Elisabeth noch Iggie ließen mir gegenüber das Wort »Selbstmord« fallen, aber beide sagten, sie habe nicht mehr weitermachen können, nicht mehr weitermachen wollen. Sie starb in der Nacht. Emmy nahm zu viele ihrer Herztabletten, die sie in der taubenblauen Porzellandose aufbewahrte.
In der Dokumentenmappe liegt ihr Totenschein, zweifach zusammengefaltet. Eine kastanienbraune tschechoslowakische Fünf-Kronen-Stempelmarke mit dem aufrecht schreitenden Löwen ist aufgeklebt und gestempelt, obwohl an dem Tag, an dem der Schein ausgefüllt wurde, die Tschechoslowakei nicht mehr existierte. Am 12. Oktober 1938, steht da auf Slowakisch, ist Emmy Ephrussi von Schey, Ehefrau von Viktor Ephrussi, Tochter von Paul Schey und Evelina Landauer, im Alter von neunundfünfzig Jahren gestorben. Todesursache
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