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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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durch den Fleiß einer Familie angesammelt hat, hundert Jahre Besitz. Und dann dürfen sie ins Palais Ephrussi zurückkehren, durch das offene Tor, über den Hof zur Dienertreppe in der Ecke und hinauf in den zweiten Stock, in die zwei Zimmer, die jetzt ihr Heim sind.
    Am 27. April wird erklärt, die Liegenschaft Dr.-Karl-Lueger-Ring 14, Wien I, früher Palais Ephrussi, sei vollständig arisiert worden. Es ist eine der ersten, die diese Auszeichnung erhält.
    Während ich vor den Zimmern stehe, die man ihnen zugewiesen hatte, auf der anderen Hofseite, scheinen das Ankleidezimmer und die Bibliothek unwahrscheinlich nahe. Das ist der Moment, denke ich, das ist der Anfang des Exils, der Moment, wenn das Heim noch bei dir ist und zugleich weit, weit weg.
    Das Haus gehört ihnen nicht mehr. Es ist voller Menschen, manche in Uniform, andere in Anzügen. Leute zählen die Räume, fertigen Listen der Kunstgegenstände und Bilder an, schaffen Sachen weg. Anna ist irgendwo dabei. Man hat ihr befohlen, beim Verpacken in Schachteln und Kisten zu helfen, hat ihr gesagt, sie solle sich schämen, für Juden zu arbeiten.
    Es geht nicht nur um Kunst, um die Nippes, all die vergoldeten Sachen von den Tischen und Kaminsimsen, auch um Kleidung, um Emmys Wintermäntel, eine Kiste voller Haushaltsporzellan, eine Lampe, ein Bündel Regenschirme und Spazierstöcke. Das alles hat Jahrzehnte gebraucht, um in das Haus zu kommen, sich in Schubladen und Kisten und Vitrinen und Truhen niederzulassen, Hochzeitsgeschenke und Geburtstagsgeschenke und Souvenirs, und jetzt wird alles wieder hinausgetragen. Es ist das seltsame Auflösen einer Sammlung, eines Hauses, einer Familie. Es ist der Augenblick, in dem etwas zerreißt, wenn große Dinge weggenommen und Familienbesitztümer, gekannt, gebraucht, geliebt, einfach Zeug werden.
    Um den Wert der Kunstobjekte jüdischer Besitzer beurteilen zu können, sind von der Vermögensverkehrsstelle Schätzmeister bestellt worden, die methodisch beim Entkernen der jüdischen Haushalte von Bildern, Büchern, Möbeln, Kunstgegenständen behilflich sind. Experten aus den Museen beurteilen, was von Wert ist. In den ersten Wochen nach dem Anschluss brodelt es in den Museen und Galerien förmlich von emsiger, zielgerichteter Arbeit: Briefe müssen geschrieben und kopiert werden, Listen angelegt, Anfragen gestellt zu Herkunft oder Zuschreibung, jedes Bild, jedes Möbelstück, jedes Kunstobjekt muss bewertet werden. Um jedes einzelne Objekt kämpfen verschiedene Interessenten.
    Während ich die Dokumente lese, denke ich an Charles in Paris, Amateur de l’art, fleißig und gewissenhaft beim Recherchieren und Anfertigen von Verzeichnissen, ich denke an sein Gelehrtenleben, sein Vagabundieren, um Kenntnisse über seine geliebten Maler zusammenzutragen, seine Lackarbeiten, seine Netsuke-Sammlung.
    Nie zuvor waren Kunsthistoriker so nützlich, nie hat man so aufmerksam ihre Meinung angehört wie in Wien im Frühjahr 1938. Und da der Anschluss bedeutet, dass alle Juden ihre Anstellungen in öffentlichen Institutionen verloren haben, gibt es spannende Möglichkeiten für die richtigen Kandidaten. Zwei Tage nach dem Anschluss wird Fritz Dworschak, früher für die Numismatische Abteilung zuständig, zum Direktor des Kunsthistorischen Museums ernannt. Die Verteilung der beschlagnahmten Kunstwerke, verkündet er, sei eine »einzigartige, nie wiederkehrende Gelegenheit einer Erweiterung … auf sehr vielen Gebieten«.
    Das trifft zu. Die meisten Kunstgegenstände sollen verkauft oder versteigert werden, um Geld für das Reich aufzutreiben. Einige Objekte sollen bei Händlern gegen anderes getauscht, einige dem Führer für das neue Museum, das er für seine Heimatstadt Linz plant, geschenkt werden, wieder andere an die Nationalmuseen gehen. Berlin beobachtet die Lage genau. Der Führer möchte persönlich über die Verwendung der Güter nach der Beschlagnahme entscheiden. Er überlegt, die Kunstwerke zuerst und vor allen Dingen kleinen österreichisehen Städten für ihre Sammlungen zur Verfügung zu stellen. Einige Bilder, Bücher und Möbel sind für die Sammlungen der führenden Nazis vorgesehen.
    Im Palais Ephrussi ist dieser Begutachtungsprozess nun im Gang. Alles in dem großen Schatzhaus wird ans Licht gehalten und untersucht. Sammler gehen so vor. Unter dem grauen Licht im glasüberdachten Innenhof werden alle Gegenstände dieser jüdischen Familie begutachtet. Die Gestapo äußert sich recht ätzend über den Geschmack,

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