Der Hase mit den Bernsteinaugen
die Unterlagen anzusehen. Unter den neuen Bestimmungen - Bestimmungen, die gerade sechsunddreißig Stunden in Kraft sind - muss das Unternehmen zuerst den arischen Aktionären angeboten werden, und zwar zu herabgesetztem Preis. Das bedeutet, dass Herr Steinhäusser, Viktors Kollege seit achtundzwanzig Jahren, gefragt wird, ob er seine jüdischen Kollegen auszahlen will.
Es ist erst sechs Wochen her seit der geplanten Volksabstimmung.
Ja, sagt er in einem Interview nach dem Krieg über seine Rolle in der Bank, natürlich habe er sie ausbezahlt. »[Für die Flucht] bedurften sie eines größeren liquiden Geldbetrages, um insbesondere den Anforderungen des Deutschen Reiches für Reichsfluchtsteuer genügen zu können. Diese beiden Gesellschafter boten mir ihre Gesellschaftsanteile deshalb dringend an, weil ihnen dies der rascheste Weg zur Erfüllung dieses Wunsches schien …« Die »Abtretungspreise« seien »vollkommen entsprechend« gewesen: 508000 Reichsmark und die »Entjudungsauflage«, 40000 Reichsmark.
So wird Ephrussi und Co. am 12. August 1938 aus dem Handelsregister genommen. In den Aufzeichnungen heißt es unüblicherweise »gelöscht«. Drei Monate später wird der Name in »Bankhaus CA. Steinhäusser« geändert. Unter dem neuen Namen wird die Bank neuerlich bewertet: Unter den jetzigen nichtjüdischen Eigentümern ist sie sechsmal mehr wert als unter den jüdischen.
Es gibt kein Palais Ephrussi mehr in Wien und kein Bankhaus Ephrussi. Die Stadt wurde von der Familie Ephrussi gesäubert.
Bei diesem Aufenthalt in Wien gehe ich ins Archiv der Kultusgemeinde, dasjenige, das Eichmann beschlagnahmte, und möchte mir Näheres über eine Eheschließung ansehen. Ich blättere eine Mappe durch und finde Viktor; quer über seinen Vornamen ist mit roter Farbe der Name »Israel« gestempelt. Es war verfügt worden, dass alle Juden zusätzliche Namen annehmen mussten. Jemand muss auf jeden einzelnen Namen in der Auflistung der Wiener Juden einen Stempel gedrückt haben: »Israel« für die Männer, »Sara« für die Frauen.
Ich habe mich geirrt. Die Familie wurde nicht ausgelöscht, sondern überschrieben. Und das ist es, was mich endlich zum Weinen bringt.
»Einmalige Ausreise nach CSR«
Was müssen Viktor, Emmy und Rudolf tun, um die Ostmark des Deutschen Reichs verlassen zu dürfen? Sie können sich vor so vielen Botschaften oder Konsulaten anstellen, wie sie wollen, die Antwort ist immer die gleiche. Die Quoten sind erfüllt. Es gibt genügend Flüchtlinge, Emigranten, bedürftige Juden in England, um die Listen auf Jahre abzuhaken. In solchen Schlangen zu stehen ist gefährlich, da die SS oder die örtliche Polizei oder jeder, der mit jemandem abzurechnen hat, sie überwacht. Unaufhörliches Zittern vor Angst, ein Polizeilastwagen könne einen mitnehmen und nach Dachau transportieren.
Sie brauchen genug Geld, um die vielen einfallsreichen Steuern, die vielen Bußzahlungen zu entrichten, bevor sie emigrieren dürfen. Sie müssen deklarieren, was sie am 27. April 1938 besessen haben. Das wird von der Vermögensverkehrsstelle aufgenommen. Sie müssen alle inländischen und ausländischen Vermögenswerte anführen, sämtlichen Grundbesitz, Geschäftsanteile, Einkommen, Sparguthaben, Pensionen, Wertgegenstände, Kunstobjekte. Dann müssen sie zum Finanzministerium, um nachzuweisen, dass sie weder bei Erbschafts- noch Liegenschaftssteuern im Rückstand sind, und dann müssen sie einen Nachweis über Einkommen, Umsätze und Pensionszahlungen vorlegen.
Und so beginnt der achtundsiebzigjährige Viktor seinen Rundgang durch das historische Wien, er spricht bei einem Amt nach dem anderen vor, wird hier abgewiesen, kann dort nicht hinein, stellt sich an, um in ein Büro zu kommen, wo er dann wieder in einer Schlange warten muss. All die Schreibtische, vor denen er stehen muss, die gebellten Fragen, der Stempel auf dem roten Stempelkissen, der ihm die Ausreise erlauben wird oder auch nicht, die Steuern, Erlässe und Protokolle, die er verstehen soll. Es ist erst sechs Wochen her seit dem Anschluss, und wegen der vielen neuen Gesetze, der neuen Männer hinter den Schreibtischen, die unbedingt beachtet werden, sich in der Ostmark unbedingt beweisen wollen, herrscht Chaos.
Eichmann richtet im arisierten Palais Rothschild in der Prinz-Eugen-Straße die Zentralstelle für jüdische Auswanderung ein, um die Juden schneller »abzuwickeln«. Er lernt, wie man eine Organisation effizient leitet. Seine
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