Der Hase mit den Bernsteinaugen
Vorgesetzten sind äußerst beeindruckt. Dieses neue Amt wird den Beweis erbringen, dass einer mit seiner ganzen Habe und im Besitz der Staatsbürgerschaft hineingehen und ein paar Stunden später mit nichts als einer Ausreisegenehmigung wieder herauskommen kann.
Menschen werden zum Schatten ihrer Dokumente. Sie warten auf die Beglaubigung ihrer Papiere, warten auf Unterstützungsbriefe aus Übersee, auf das Versprechen einer Anstellung. Wer schon außer Landes ist, wird um Gefälligkeiten angebettelt, um Geld, um einen Verwandtschaftsnachweis, um schimärenhafte Projekte, um irgendetwas Schriftliches oder ein Blatt Papier mit Briefkopf.
Am i. Mai erhält der neunzehnjährige Rudolf die Genehmigung, in die USA auszureisen; ein Freund hat ihm einen Job bei der Firma Bertig in Paragould, Arkansas, verschafft. Viktor und Emmy bleiben allein im alten Haus zurück. Alle Bediensteten sind gegangen, außer Anna. Diese drei Personen bewegen sich nicht auf vollkommenen Stillstand zu: Sie sind schon dort angekommen, erstarrt. Viktor geht die ungewohnte Treppe in den Hof hinunter, vorbei an der Apollostatue, weicht den Blicken der neuen Beamten und seiner ehemaligen Mieter aus, geht beim Tor hinaus, vorbei am Wache stehenden SA-Mann, auf den Ring. Wo kann er hin? Nicht in sein Kaffeehaus, in sein Büro, seinen Club, zu Verwandten. Er hat kein Kaffeehaus, kein Büro, keinen Club, keine Verwandten. Er kann nicht mehr auf einer öffentlichen Bank sitzen; auf den Bänken im Park vor der Votivkirche steht »Für Juden verboten«. Er kann nicht ins Sacher gehen, nicht ins Cafe Central, auch nicht in den Prater oder in seine Buchhandlung, nicht zum Friseur, nicht durch den Park spazieren. Er kann in keine Straßenbahn einsteigen: Juden und Menschen, die jüdisch aussahen, sind schon hinausgeworfen worden. Er kann nicht ins Kino gehen. Und nicht in die Oper. Auch wenn er es könnte, er würde keine von Juden geschriebene Musik hören, keine von Juden gespielte oder gesungene Musik. Keinen Mahler und keinen Mendelssohn. Die Oper ist arisch geworden. Bei der Endstation der Straßenbahn nach Neuwaldegg stehen Männer, die verhindern sollen, dass Juden im Wienerwald wandern gehen.
Wo soll er hingehen? Wie können sie entkommen?
Während alle zu fliehen versuchen, kehrt Elisabeth zurück. Sie hat einen niederländischen Pass, das könnte sie, die jüdische Intellektuelle, die Unerwünschte, eventuell vor der Verhaftung bewahren, aber es ist trotzdem eine gefährliche Sache. Und sie ist unermüdlich: Sie kümmert sich um die Genehmigungen für ihre Eltern, gibt vor, zur Gestapo zu gehören, um einen bestimmten Beamten sprechen zu dürfen, findet Wege, die Reichsfluchtsteuer zu bezahlen, verhandelt mit Ämtern. Sie lässt sich von der Sprache dieser neuen Gesetzgeber nicht einschüchtern: Sie ist Anwältin, sie wird alles ordentlich erledigen. Sie wollen amtlich vorgehen? Nun, das kann ich auch.
Die Stempel in Viktors Pass zeigen, wie er sich Schritt für Schritt auf die Abreise zubewegt. Am 13. Mai lautet der Stempel »Passinhaber ist Auswanderer«, unterzeichnet hat ein Dr. Raffegerst. Fünf Tage später, am 18. Mai, lautet er »Einmalige Ausreise nach CSR«. In dieser Nacht gibt es Berichte von deutschen Truppenbewegungen an der Grenze und einer Teilmobilisierung der tschechoslowakischen Armee. Am 20. Mai treten in Österreich die Nürnberger Gesetze in Kraft. Diese seit drei Jahren in Deutschland gültigen Bestimmungen legen fest, was als jüdisch zu gelten hat. Sind drei von vier Großeltern Juden, dann ist man Jude. Man darf keinen NichtJuden heiraten, darf nicht mit einem NichtJuden oder einer NichtJüdin Geschlechtsverkehr haben oder die Reichsflagge hissen. Man darf keine jüdischen Hausangestellten unter fünfundvierzig Jahren beschäftigen.
Anna ist eine nichtjüdische Bedienstete in mittleren Jahren, seit ihrem vierzehnten Lebensjahr hat sie für Juden gearbeitet, für Emmy und Viktor und deren vier Kinder. Sie muss in Wien bleiben. Sie muss sich eine neue Herrschaft suchen.
Am 20. Mai erteilt das Grenzpolizeikommissariat Wien Viktor und Emmy die endgültige Ausreisegenehmigung.
Am Morgen des 21. treten Elisabeth und ihre Eltern aus dem Eichenportal und wenden sich nach links. Sie müssen zu Fuß zum Bahnhof gehen. Jeder trägt einen Koffer. Die Neue Freie Presse berichtet, dass es milde vierzehn Grad hat. Diesen Weg den Ring entlang sind sie tausendmal gegangen. Am Bahnhof verabschiedet sich Elisabeth von ihnen. Sie muss
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