Der Hase mit den Bernsteinaugen
Globen sind weg, die Uhren, die französischen Fauteuils. Das Ankleidezimmer ihrer Mutter ist staubig. Dort steht ein Aktenschrank. Kein Tisch oder Spiegel, aber eine schwarze Lackvitrine, auch sie leer.
Der freundliche Leutnant möchte behilflich sein und wird gesprächig, als er erfährt, dass Elisabeth in New York studiert hat. Lassen Sie sich Zeit, meint er, sehen Sie sich um, finden Sie, was möglich ist. Ich weiß nicht, was wir für Sie tun können. Es ist sehr kalt, er bietet ihr eine Zigarette an und erwähnt nebenbei, es gebe eine alte Dame, die noch hier wohne - er deutet mit der Hand -, die werde vielleicht mehr wissen. Ein Korporal wird um die alte Frau geschickt.
Sie heißt Anna.
Annas Schürzentasche
Zwei Frauen, eine davon älter. Die jüngere ist jetzt in mittleren Jahren, grauhaarig.
Sie begegnen einander wieder nach einem Krieg. Acht Jahre ist es her, seit sie sich zuletzt gesehen haben.
Sie treffen in einem der alten Zimmer aufeinander, jetzt ein Büro, wo mit Geräusch Akten abgelegt und eingeordnet werden. Oder im feuchten Innenhof. Ich kann bloß zwei Frauen sehen, von denen jede ihre Geschichte zu erzählen hat.
27. April. Sechs Wochen nach dem Anschluss, der Tag, an dem Alois Kirchner das Tor zur Ringstraße offen ließ und die Gestapo hereinkam. Es war der Beginn der Arisierung. Anna bekam zu hören, sie dürfe nicht mehr für Juden arbeiten, sie müsse jetzt für ihr Land tätig sein. Sie solle sich nützlich machen, die Besitztümer der früheren Bewohner aussortieren und in Holzkisten verstauen. Es gebe viel zu tun, sie solle damit beginnen, das Silber im Silberzimmer einzupacken.
Überall standen Kisten herum, und die Gestapo-Beamten fertigten Listen an. Wenn sie etwas eingepackt hatte, wurde es abgehakt. Nach dem Silber kam das Porzellan. Rund um sie nahmen die Leute die Wohnung auseinander. Es war der Tag, an dem Viktor und Rudolf verhaftet und weggebracht wurden, an dem Emmy aus der Wohnung ausgesperrt und in die zwei Zimmer auf der anderen Hofseite verwiesen wurde.
Sie nahmen das Silber mit. »Und den Schmuck deiner Mutter, das Porzellan, ihre Kleider.« Und die Uhren, die Anna aufgezogen hatte (Bibliothek, Vorraum, Salon, die Uhr im Ankleidezimmer des Barons einmal pro Woche), die Bücher aus der Bibliothek, die hübschen Porzellanclowns aus dem Salon. Alles. Sie hatte geschaut, was sie für Emmy und die Kinder retten könnte.
»Ich konnte nichts Wertvolles für euch mitnehmen. Also hab ich drei oder vier von den Figürchen aus dem Ankleidezimmer der Baronin genommen, die kleinen Spielsachen, mit denen ihr als Kinder gespielt habt - weißt du noch? -, hab sie in meine Schürzentasche gesteckt, wenn ich vorbeigegangen bin, und in mein Zimmer gebracht. Dort habe ich sie in der Matratze in meinem Bett versteckt. Ich habe zwei Wochen gebraucht, bis ich sie alle aus dem großen Glasschrank geholt hatte. Du weißt ja, wie viele es waren!
Sie haben nichts bemerkt. Sie waren so beschäftigt. Sie waren so beschäftigt mit den großen Sachen - die Bilder des Barons und das Goldservice aus dem Safe und die Kabinettschränke aus dem Wohnzimmer und die Statuen und der Schmuck eurer Mutter. Und die alten Bücher des Barons, die er so geliebt hat. Die kleinen Figuren sind ihnen nicht abgegangen.
Also hab ich sie einfach genommen. Ich habe sie in meine Matratze gelegt und darauf geschlafen. Und jetzt bist du da, und ich habe etwas, das ich dir zurückgeben kann.«
Im Dezember 1945 gab Anna Elisabeth 264 japanische Netsuke.
Das ist die dritte Bleibe in der Geschichte der Netsuke.
Von Charles und Louise in Paris, der Vitrine in dem leuchtenden gelben Zimmer mit den Impressionisten, zu Emmy und ihren Kindern in Wien, zu den ineinander verwobenen Geschichten und zum Verkleiden, zu Kindheit und So-tun-als-ob, bis zu diesem seltsamen Zubettgehen mit Anna in ihrem Zimmer.
Die Netsuke waren bereits früher in Bewegung gewesen. Seit sie aus Japan gekommen waren, hatte man sie begutachtet: aufgenommen, untersucht, in der Hand gewogen, wieder hingelegt. So etwas tun Händler. Sammler tun es und auch Kinder. Doch wenn ich an Annas Schürzentasche denke, mit ihrem Staubtuch oder einer Garnspule drin, dann denke ich, noch nie zuvor ist man ihnen mit so viel Behutsamkeit begegnet. Es ist April 1938, und nach dem Anschluss folgt eine Proklamation auf die andere, während die Kunsthistoriker wie besessen an den Inventaren arbeiten und Fotos in die Gestapo-Alben kleben, die dann nach
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