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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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Historien.
    Er ist Emigrant. Sein Land der Dichter and Denker ist zum Land der Richter und Henker geworden.
     
    Die Tränen der Dinge
     
    Viktor lebte mit meinen Großeltern, meinem Vater und Onkel in einem gemieteten Haus in einem Vorort von Tunbridge Wells, St. David’s. Ein im Fischgrätmuster gepflasterter Weg führte von einer hölzernen Gartentür zwischen Ligusterrabatten hinauf zu einer Veranda vor einem gedrungenen Giebelhaus. Es gab Rosenbeete und einen Gemüsegarten. Es war ein gewöhnliches Haus in einer gewöhnlichen Stadt in Kent, sechzig Kilometer südlich von London, sicher und ziemlich bieder.
    Sie gingen sonntags zum Frühgottesdienst in die Kirche King Charles the Martyr. Die Buben - acht und zehn Jahre alt - wurden in Schulen geschickt, wo man sie wegen ihres ausländischen Akzents nicht hänselte, der Direktor achtete streng darauf. Sie sammelten Granatsplitter und Uniformknöpfe und bastelten aus Pappe aufwendige Burgen und Boote. Am Wochenende gingen sie in den Buchenwäldern spazieren.
    Elisabeth, die nie in ihrem Leben gekocht hatte, lernte Mahlzeiten zuzubereiten. Ihre frühere Köchin, die nun in England lebte, schickte ihr seitenlange Briefe mit Rezepten für Salzburger Nockerl und Schnitzel und akribischen Anleitungen: »Die gnädige Frau kippt die Bratpfanne ein wenig …«
    Um das Haushaltsgeld aufzubessern, unterrichtete Elisabeth Nachbarskinder in Latein; mit Übersetzungen verdiente sie genug, um den Buben Fahrräder kaufen zu können, jedes kostete acht Pfund. Sie versuchte wieder Gedichte zu schreiben, aber es ging nicht mehr. 1940 verfasste sie einen Essay über Sokrates und den Nazismus - drei enragierte Seiten - und schickte ihn ihrem Freund, dem Philosophen Eric Voegelin in Amerika. Sie setzte den Briefwechsel mit ihrer in alle Winde zerstreuten Familie fort. Gisela und Alfredo samt Kindern waren in Mexiko. Rudolf war immer noch in seiner Kleinstadt in Arkansas: Er schickte ihr einen Zeitungsausschnitt aus The Paragould Soliphone: »Rudolf Ephrussi, Baron Ephrussi, wie er in der Alten Welt geheißen hätte, ein großer, gut aussehender Junge, entlockt seinem Saxophon die neuesten Melodien.« Pips und Olga waren in der Schweiz. Tante Gerty hatte aus der Tschechoslowakei flüchten können und lebte nun in London, aber es gab nach wie vor keine Nachrichten von Elisabeths Tante Eva und Onkel Jenö, die zuletzt in Kövecses gewesen waren.
    Henk, mein Großvater, pendelte mit dem Zug um acht Uhr achtzehn nach London; zu seinen Aufgaben gehörte es, den Verbleib der holländischen Handelsflotte und ihren geplanten Einsatzort nachzuverfolgen.
    Und Viktor saß auf einem Stuhl neben dem Küchenherd, der einzige Platz im Haus, wo es warm war. Jeden Tag verfolgte er in der Times die Nachrichten über den Krieg, an Donnerstagen las er die Kentish Gazette. Er las Ovid, besonders die »Tristia«, die Gedichte aus dem Exil. Beim Lesen strich er sich mit der Hand über das Gesicht, damit die Kinder nicht sahen, welche Wirkung der Dichter auf ihn hatte. Er las beinahe den ganzen Tag über, außer wenn er seinen kurzen Spaziergang die Blatchingdon Road hinauf und zurück unternahm oder ein Schläfchen hielt. Gelegentlich ging er den ganzen Weg ins Stadtzentrum in Hall’s Antiquariat, wo der Buchhändler Mr. Pratley besonders freundlich zu Viktor war, während der die Bände von Galsworthy, Sinclair Lewis und H. G. Wells befühlte.
    Manchmal erzählte er den Buben, wenn sie aus der Schule heimkamen, von Aeneas und seiner Rückkehr nach Karthago. Dort sind an die Wände Szenen aus Troja gemalt. Erst dann, konfrontiert mit den Bildern dessen, was er verloren hat, kann Aeneas endlich weinen. »Sunt lacrimae rerum«, sagt Aeneas. Es sind die Tränen der Dinge, liest Viktor dort am Küchentisch, während die Buben ihre Algebra-Aufgaben erledigen. »Ein Tag im Leben eines Bleistifts«; »Die Aufhebung der Klöster: Triumph oder Tragödie?«
    Viktor vermisste die flachen Zündhölzer, die man in Wien kaufen konnte, sie passten in seine Westentasche. Er vermisste seine kleinen Zigarren. Er trank seinen schwarzen Tee nach russischer Art aus dem Glas, mit Zucker. Einmal streute er die gesamte Wochenration für die Familie hinein und rührte um, während die anderen mit offenem Mund dasaßen.
    Im Februar 1944 taucht zur Freude aller Iggie in seiner amerikanischen Uniform in Tunbridge Wells auf; er ist Nachrichtenoffizier im Hauptquartier des 7. Korps. Das aus der Kindheit vertraute Hin- und Herwechseln

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