Der Hase mit den Bernsteinaugen
Berlin geschickt werden sollen, und die Bibliothekare sorgfältig ihre Bücherlisten zusammenstellen. Sie bewahren Kunst für ihr Land. Und Rosenberg braucht Judaica, um seine Theorie über das Tierhafte der Juden nachweisen zu können. Alle arbeiten sie hart, keiner aber kommt der Hingabe und dem Fleiß Annas nahe. Während Anna auf ihnen schläft, werden die Netsuke mit mehr Respekt behandelt als jemals zuvor. Sie hat den Hunger und die Plünderungen, die Brände und den Einmarsch der Russen überlebt.
Netsuke sind klein und hart. Sie werden kaum zerkratzt, kaum zerbrochen: Sie sind geschaffen, herumgestoßen zu werden. »Ein Netsuke muss so gestaltet sein, dass es seinem Träger nicht lästig wird«, heißt es in einem Führer. Sie sind nach innen orientiert: der Hirsch mit den unter dem Bauch gefalteten Beinen, der Fassbinder, der in seinem halbfertigen Fass kauert, die Ratten, die um eine Haselnuss jagen. Oder mein Liebling, der schlafende Mönch über seiner Bettlerschale; eine einzige ungebrochene Rückenlinie. Sie können auch Schmerzen zufügen: Die Spitze der elfenbeinernen Bohnenschote ist scharf wie ein Messer. Ich denke daran, wie sie in einer Matratze liegen, eine eigenartige Matratze, in der Buchsbaumholz und Elfenbein aus Japan auf österreichisches Rosshaar treffen.
Berührung findet nicht bloß durch die Finger statt, auch durch den ganzen Körper.
Jedes Einzelne dieser Netsuke ist für Anna ein Widerstand gegen das Unterminieren der Erinnerung. Jedes, das sie hinausträgt, ist ein Widerstand gegen das Neueste vom Tag, eine ins Gedächtnis gerufene Geschichte, eine Zukunft, an der man festhält. Hier stößt der Wiener Kult der Gemütlichkeit - leichthin geweinte Tränen über sentimentale Geschichten, alles umhüllt von Mehlspeise und Schlagobers, der melancholische Abschied vom Glück, die zuckersüßen Bilder von den Dienstmädchen und ihren Galanen - auf etwas Diamanthartes. Ich denke an Herrn Brockhaus und seine Verwünschungen achtloser Bediensteter; wie unrecht er doch hatte.
Keine Sentimentalität, keine Nostalgie. Es ist etwas viel Härteres, buchstäblich Härteres. Eine Art Vertrauen.
Ich habe Annas Geschichte vor langer Zeit gehört. Ich hörte sie in Tokio, als ich das erste Mal die Netsuke sah, beleuchtet in einer langen Vitrine zwischen Bücherschränken. Iggie hatte mir einen Gin Tonic gemacht, sich selbst einen Scotch mit Soda, und er sagte – en passant, halblaut -, das sei eine verborgene Geschichte. Damit meinte er nicht, denke ich heute, dass er zögerte, die Geschichte zu erzählen, sondern dass sich die Geschichte um etwas Verborgenes drehte.
Ich kannte die Geschichte. Ich spürte sie nicht, bis zu meinem dritten Aufenthalt in Wien, als ich mit einem Mann aus dem Büro der Casinos Austria im Hof stand und er mich fragte, ob ich die Geheimetage sehen wolle. Wir gingen die Opernstiege hinauf, er schob einen Teil der Wandverkleidung nach links, wir schlüpften geduckt hindurch und kamen in ein ganzes Stockwerk, Zimmer nach Zimmer ohne Fenster zur Außenseite: Wenn man auf dem Ring steht, schweift das Auge ungehindert vom Straßenniveau bis zu Ignaz’ Nobelstock. Es zeichnet die großen Räume darüber nach, doch die sind eigentlich alle niedriger. Zum Hof hin gibt es nur kleine, trübe rechteckige Fenster, unauffällig genug, um als Bestandteil der Wandgestaltung durchzugehen. Die einzige Möglichkeit, in dieses Stockwerk hinein- oder herauszukommen, ist entweder durch die als Marmorplatte kaschierte Tür, die auf die große Treppe führt, oder über die Dienstbotentreppe in der Ecke des Hofes. Es ist die Dienstbotenetage.
In dem Zimmer, wo Anna schlief, befindet sich nun die Cafeteria der Casinos Austria. Während ich im Getriebe der Mittagszeit an einem Werktag in Wien dastehe, fühle ich einen kleinen Taumel, als würde etwas nicht stimmen, jenes Aufschrecken, das man empfindet, wenn man eine Seite umblättert und bemerkt, dass man liest, ohne zu verstehen. Man muss zurückblättern und von vorne beginnen, und die Worte scheinen noch unvertrauter und klingen seltsam im Kopf.
Und, sagte der für das Haus zuständige Mann, der sich immer mehr für sein Vorhaben erwärmte, haben Sie bemerkt, wie im Haus Licht einfällt? Woher, glauben Sie, erhält die Opernstiege Licht? So steigen wir die gewundene Dienertreppe hinauf und stoßen eine kleine Tür auf, die auf eine ganze Dachlandschaft von eisernen Brücken und Leitern führt. Wir gehen die Brüstung über den Karyatiden
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