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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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Hauptfigur auf einen Zollbeamten an der Grenze, der sie nach ihrem Pass fragt:
    »Es war die Stimme, die Tonfärbung, die einen Nerv irgendwo in Kuno Adlers Hals traf; nein, unterhalb des Halses, wo Atem und Nahrung in die Tiefen des Körpers hinabgleiten, ein nicht vom Willen beeinflusster, unkontrollierbarer Nerv, wahrscheinlich im Solarplexus. Es war die Art dieser Stimme, dieses Akzents, weich und doch rauh, einschmeichelnd und leicht vulgär, fühlbar für das Ohr wie eine bestimmte Art Stein für die Berührung - Bimsstein, grobkörnig, schwammartig und an der Oberfläche ein wenig ölig - eine österreichische Stimme, österreichische Passkontrolle!<«
    Der exilierte Professor kommt am ausgebombten Bahnhof an und wandert herum, versucht sich an das Elend, die Habgier der verarmten Einwohner und an die Zerstörung der Sehenswürdigkeiten zu gewöhnen. Die Oper, die Börse, die Akademie der bildenden Künste - alles zerstört. Der Stephansdom eine ausgebrannte Hülse.
    Unweit des Palais Ephrussi bleibt der Professor stehen: »Endlich war er da, am Ring: das massig aufragende Naturhistorische Museum zu seiner Rechten, die Rampe des Parlaments zur Linken, dahinter der Rathausturm, vor ihm der Zaun des Volksgartens und das Burgtor. Hier war er, und alles war noch da; obwohl die einst baumbestandenen Spazierwege entlang der Straße kahl, baumlos waren, nur ein paar nackte Stämme standen noch. Sonst war alles vorhanden. Und plötzlich sprang die Verzerrung der Zeit, die ihn vor Illusionen und Trugbildern schwindeln gemacht hatte, ins Scharfe, und er war real, alles war real, unumstößliche Tatsache. Er war hier. Nur die Bäume waren nicht hier, und dieses vergleichsweise banale Zeichen der Zerstörung, auf das er nicht vorbereitet gewesen war, machte ihn unverhältnismäßig traurig. Rasch überquerte er die Straße, trat durch das Parktor, setzte sich auf eine Bank an einem verlassenen Weg und weinte.«
    In ihrer Kindheit hatte Elisabeth durch den Lindenbaldachin vor ihrem Haus geschaut. Im Mai war ihr Schlafzimmer von Blumenduft erfüllt gewesen.
    Am 8. Dezember 1945 - es ist sechseinhalb Jahre her, seit sie das letzte Mal hier gewesen ist - betritt Elisabeth ihr ehemaliges Elternhaus. Die riesigen Torflügel hängen schief in den Angeln. Hier befinden sich nun Büros der amerikanischen Besatzungsbehörden: American Headquarters / Legal Council Property Control Sub-Section. Im Hof sind Motorräder und Jeeps abgestellt. Die meisten Scheiben im Glasdach sind zerborsten: Eine Bombe ist auf dem Dach des Nachbargebäudes gelandet, hat den Großteil der Fassade zerstört und die Karyatiden am Palais, hinter denen die Kinder Verstecken spielten, mitgerissen. Auf dem Boden stehen Pfützen. Apollo steht nach wie vor auf seinem Podest, unbewegt, die Leier in der Hand.
    Elisabeth steigt die dreiunddreißig Stufen, die Familientreppe, zur Wohnung hinauf; sie klopft und wird von einem liebenswürdigen Leutnant aus Virginia eingelassen.
    In der Wohnung sind jetzt Büros, jedes Zimmer ist voller Schreibtische und Aktenschränke und Stenographinnen. Listen und Merkblätter sind an die Wände gepinnt. In der Bibliothek hängt über dem Kamin eine riesige Karte des besetzten Wien, die sowjetische, amerikanische, englische und französische Zone in verschiedenen Farben. Eine Wolke von Zigarettenrauch steht im Raum, Stimmengeräusch, Schreibmaschinengeklapper. Man führt sie mit Interesse und Sympathie durch die Büros und mit einem Anflug leichten Unglaubens, dass dies - dies alles - einmal das Heim einer Familie war. Die amerikanische Behörde ist einfach über das letzte Nazi-Amt gestülpt worden.
    Ein paar Gemälde hängen noch an den Wänden, ein paar »Junge-Frau«-Bilder in ihren schweren Goldrahmen, einige Studien österreichischer Landschaften im Nebel und drei Porträts von Emmy einer Großmutter und einer Großtante. Die schwersten Möbel stehen noch am Platz, der Esstisch und die dazugehörenden Stühle, ein Sekretär, Kleiderschränke, Betten, die breiten Lehnstühle. Einige Vasen. Es scheint willkürlich, was noch da ist. Der Schreibtisch ihres Vaters steht in der Bibliothek. Einige Teppiche liegen auf den Böden. Aber es ist immer noch ein leeres Haus. Genauer, ein geleertes Haus.
    Der Abstellraum ist leer. Die Kaminsimse sind leer. Die Silberkammer ist leer, ebenso der Safe. Kein Klavier steht da. Kein italienischer Kabinettschrank. Keine Tischchen mit Mosaikintarsien. In der Bibliothek gähnen leere Regale. Die

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