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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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zu einem guten Ende zu bringen, haben wir die Zeichnungen unseres Meisters überall aufgespürt, wo sie verborgen sein konnten: in den Museen ausländischer Groß- und Kleinstädte, in Paris und in den Provinzen, in berühmten und wenig bekannten privaten Sammlungen, in den cabinets der Liebhaber und jenen brüsk abweisender Menschen, wir durchstöberten, durchwühlten, untersuchten alles.« Charles mag ein Flaneur gewesen sein, viel Zeit in den Salons verbracht haben, beim Rennen und in der Oper gesehen worden sein, doch sein »Vagabundieren« besaß echte Intensität.
    »Vagabundieren«, das war sein Ausdruck. Das klingt eher nach Erholung als nach Fleiß oder Professionalität. Es wäre gegen die gesellschaftlichen Gepflogenheiten gewesen, hätte sich ein steinreicher jüdischer mondain bei der Arbeit antreffen lassen. Er war ein amateur de l’art, ein Kunstliebhaber, und sein Ausdruck ist bewusst bescheiden. Doch er trifft das Vergnügen an der Forschung, die Art, wie man dabei jedes Zeitgefühl verliert, wie man sich ebenso sehr von Launen wie von Plänen leiten lässt. Ich muss an das Herumstöbern in seinem Leben denken, während ich die Spuren seiner Netsuke verfolge, daran, wie ich die Randbemerkungen anderer Leute notiere. Ich vagabundiere in Bibliotheken herum, spüre auf, wo er hingegangen ist und warum. Ich folge den Anhaltspunkten, wen er kannte, über wen er schrieb, wessen Bilder er kaufte. In Paris stehe ich im Sommerregen vor seinem alten Büro in der Rue Favart, wie ein melancholischer kunsthistorischer Privatdetektiv, und warte, wer herauskommt.
    Mir fällt auf, dass ich im Laufe der Monate immer empfindlicher auf die Beschaffenheit von Papier reagiere.
    Und dass ich Charles ins Herz geschlossen habe. Er ist ein leidenschaftlicher Gelehrter. Er ist gut angezogen und ein guter Kunsthistoriker und hartnäckig beim Recherchieren. Welch großartige und seltene Dreieinigkeit von Attributen, denke ich mit einem Anflug von Neid.
    Charles hatte einen ganz besonderen Grund für seine Forschungsarbeit. Er glaubte, dass »alle Dürer-Zeichnungen, selbst die flüchtigsten Skizzen, eine besondere Erwähnung verdienten, dass nichts, das der Hand unseres Meisters zugeschrieben wird, beiseitegelassen werden sollte …« Charles wusste, dass es auf Intimität ankommt. Wenn wir eine Zeichnung in die Hand nehmen, können wir »die Gedanken des Künstlers in aller Unmittelbarkeit wahrnehmen, in ebendem Augenblick, wo sie sich entfalten, und das mit vielleicht mehr Wahrheit und Ehrlichkeit als in den Werken, die Stunden mühevoller Arbeit verlangen und die trotzige Ausdauer des Genies«.
    Das ist ein wunderbares Manifest für die Zeichnung. Es feiert den Augenblick der Vorahnung und den flüchtigen Moment der Umsetzung ein paar Tintenspuren oder Bleistiftstriche. Es ist auch eine schön verrätselte Forderung nach einem Austausch zwischen einer bestimmten Art des Alten und des ganz Neuen in der Kunst. Sein Buch, so Charles, sollte »den größten deutschen Künstler in der französischen Öffentlichkeit bekannter machen«, den ersten Künstler, den er in seiner Kindheit in Wien ins Herz geschlossen hatte. Aber es gab Charles auch eine emotionale wie intellektuelle Plattform, von der aus er argumentieren konnte, dass die verschiedenen Zeitalter einander etwas zu sagen hätten, dass eine Zeichnung von Dürer zu einer Zeichnung von Degas sprechen könne. Er wusste, das konnte funktionieren.
    Charles wurde durch seine Schriften zum Fürsprecher für die lebenden Künstler, die er kennenlernte. Er war Kritiker, unter seinem eigenen Namen oder unter Pseudonymen, er argumentierte die Vorzüge bestimmter Bilder, er kämpfte für Degas’ »Kleine Tänzerin«, »wie sie dasteht in ihrem abgetragenen Kleidchen, müde, abgekämpft«. Als Herausgeber der Gazette gab er nun Besprechungen von Ausstellungen jener Maler in Auftrag, die er bewunderte. Leidenschaftlich und parteiisch begann er auch Bilder für den Raum mit dem gelben Lehnstuhl zu kaufen.
    Charles’ erste Bilder waren von Berthe Morisot. Er liebte ihr Werk: »Sie zermahlt Blütenblätter auf ihrer Palette, um sie später mit luftigen, geistreichen, ein wenig willkürlichen Strichen auf der Leinwand zu verteilen. Sie harmonieren, verschmelzen und erzeugen schließlich etwas Edles, Lebendiges und Reizvolles, das man weniger sieht als ahnt …«
    In drei Jahren stellte er eine Kollektion von vierzig impressionistischen Werken zusammen und erwarb weitere zwanzig für

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