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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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Weiß. Weiß das ganze Jahr über: von den Hüten zu den Schuhen, die sie im staubigen Sommer dreimal pro Tag wechselt. Kleider sind eine Passion, die Emmys Eltern wohlwollend zur Kenntnis nehmen, unter anderem, weil sie eine Begabung dafür hat. Begabung ist ein zu schwacher Ausdruck. Die Art, wie sie manches an ihrer Kleidung ändert, um sich von den anderen Mädchen abzuheben, hat etwas Leidenschaftliches, etwas von einer Berufung.
    In Emmys Jugend verkleidete man sich gern. Ich fand ein Album mit Fotos einer Wochenendgesellschaft, bei der die Mädchen als Figuren aus den Gemälden Alter Meister auftraten. Emmy ist Tizians Isabella d’Este in Samt und Pelz, andere Cousinen stellen hübsche Dienstmädchen von Chardin und Pieter de Hooch dar. Ich nehme Emmys gesellschaftliche Vorrangstellung zur Kenntnis. Ein anderes Foto zeigt den hübschen jungen Hofmannsthal und die halbwüchsige Emmy als Venezianer der Renaissancezeit bei einem Maskenball anlässlich einer Hochzeit. Es gab auch ein Fest, bei dem sie als Makart-Figuren erschienen, eine wunderbare Gelegenheit, breitkrempige Federhüte zu tragen.
    Vor und nach ihrer Heirat spielte sich Emmys anderes Leben in der Slowakei ab, im Landhaus der Schey in Kövecses, zwei Zugstunden von Wien entfernt. Kövecses war ein sehr großes, sehr schlichtes Haus aus dem 18. Jahrhundert (»eine große rechteckige Schachtel, wie Kinder sie zeichnen«, so meine Großmutter) in einer flachen Gegend mit Feldern, durchzogen von Weidengürteln, Birkenwäldchen und Bächen. Ein großer Fluss, die Waag, bildete eine der Begrenzungen des Landguts. Eine Gegend, wo man in der Ferne Gewitter vorüberziehen sah und sie nicht einmal hörte. Es gab einen Badeteich, Umkleidekabinen mit Holzgitterwerk im maurischen Stil, zahlreiche Stallungen und viele Hunde. Emmys Mutter Evelina züchtete Gordon Setter; die erste Hündin kam in einer Lattenkiste im Orient-Express, der große Zug hielt in der winzigen Haltestelle am Landgut. Für die Jagd auf Hasen und Fasane waren die Deutschen Vorstehhunde ihres Vaters bestimmt. Ihre Mutter jagte gerne; wenn eine Niederkunft nahte, begleiteten sie nicht nur der Wildhüter, sondern auch die Hebamme auf die Fasanenjagd.
    In Kövecses reitet Emmy. Sie geht auf Rotwildjagd, schießt und unternimmt Wanderungen mit den Hunden. Ich bemühe mich, die zwei Teile ihres Lebens zusammenzufügen, und bin ein wenig verdutzt. Mein Bild vom jüdischen Leben im Wien der Jahrhundertwende ist glattpoliert, es hat vor allem mit Freud zu tun, mit Vignetten von geschliffener intellektueller Konversation in Kaffeehäusern. Ich bin ziemlich angetan von meinem Motiv »Wien als Schmelztiegel des io. Jahrhunderts«, so wie viele Kuratoren und Wissenschaftler es sind. Während ich den Wiener Teil meiner Geschichte schreibe, höre ich Mahler, ich lese Schnitzler und Loos und fühle mich selbst sehr jüdisch.
    Zu meinem Bild dieser Epoche gehören sicherlich keine Juden, die auf die Pirsch gehen oder über die Vorzüge diverser Jagdhunde für die unterschiedlichen Wildarten diskutieren. Ich weiß nicht recht weiter, als mein Vater mich anruft, er habe noch etwas gefunden, das ich auf meinen wachsenden Fotostapel legen kann. Ich merke, dass er recht zufrieden ist mit sich und seinem eigenen Vagabundieren für dieses Projekt. Er kommt zum Mittagessen zu mir ins Atelier und holt aus einem Supermarktbeutel ein kleines weißes Buch. Ich weiß nicht genau, was das ist, meint er, aber es sollte in deinem »Archiv« sein.
    Das Buch ist in sehr weiches weißes Wildleder gebunden, vergilbt und am Rücken verschlissen. Der Umschlag trägt die Daten 1878 und 1903. Ein gelbes Seidenband ist darumgeschlungen, wir knüpfen es auf. Innen finden sich auf separaten Kartons zwölf schöne Tuschezeichnungen von Familienmitgliedern, jede von einem silbernen Streifen und einem jeweils unterschiedlichen, fein gestalteten Rahmen mit secessionistischem Muster umgeben, dazu kryptische Vierzeiler auf Deutsch, Latein oder Englisch, Verse aus Gedichten oder Zeilen aus einem Lied. Wir finden heraus, dass es ein Geschenk von Emmy und ihrem Bruder Pips zu Baron Pauls und Evelinas Silberhochzeit sein muss. Weißes Velours für ihre Mutter, die immer solchen Wert auf Weiß legte: Hüte, Kleider, Perlen und weiße Wildlederstiefelchen.
    Eine der Tuschezeichnungen zur Silberhochzeit zeigt Pips in Uniform, der am Klavier Schubert spielt: Er hat die Erziehung erhalten, die Emmy nie genoss, er hatte richtige Hauslehrer. Viele

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