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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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Stirn zum Kinn, eine Reflexbewegung. Er ordnete seine Gedanken oder strich sein öffentliches Gesicht zurecht. Oder vielleicht verbarg er sein privates Gesicht hinter seiner Hand.
    Viktor wartete, bis sie siebzehn war, und hielt dann um die Hand von Baronesse Emmy Schey von Koromla an, die er seit ihrer Kindheit kannte. Ihre Eltern, Baron Paul Schey von Koromla und die in England geborene Evelina Landauer, waren Freunde der Familie und Geschäftspartner des Vaters, sie wohnten ebenfalls an der Ringstraße. Viktor und Evelina waren enge Freunde und gleich alt. Sie liebten beide die Poesie, tanzten auf Bällen miteinander, gingen in Kövecses, der slowakischen Besitzung der Scheys, gemeinsam auf die Jagd.
    Viktor und Emmy heirateten am 7. März 1899 in der Synagoge. Er war neununddreißig und verliebt, sie achtzehn und ebenfalls verliebt. Viktor war in Emmy verliebt, sie hingegen in einen Künstler und Lebemann, der keine Absicht hatte zu heiraten, schon gar nicht dieses junge, dekorative Geschöpf. In Viktor war sie nicht verliebt.
    Unter den passenden Geschenken aus ganz Europa, die nach dem Hochzeitsfrühstück in der Bibliothek zur Schau gestellt wurden, waren eine berühmte Perlenkette von einer Großmutter, der Louis-XVI-Sekretär von den Cousins Jules und Fanny, die zwei Schiffe im Sturm von Cousin Ignaz, von Onkel Maurice und Tante Beatrice eine italienische Madonna mit Kind nach Bellini in einem schweren vergoldeten Rahmen und ein großer Diamant von jemandem, dessen Namen man nicht mehr kennt. Und von Cousin Charles die Vitrine mit den Netsuke auf den grünen samtüberzogenen Borden.
    Am 3. Juni, zehn Wochen nach der Hochzeit, starb Ignaz. Es geschah plötzlich, ohne vorangehendes Kränkeln. Laut meiner Großmutter starb er im Palais Ephrussi; Emilie hielt seine Hand, seine Geliebte die andere. Es muss eine weitere Geliebte gewesen sein, fällt mir auf, eine, die weder die Frau seines Sohnes noch eine seiner Schwägerinnen war.
    Ich besitze ein Foto von Ignaz auf dem Totenbett, der Mund wirkt immer noch fest und entschlossen. Er wurde im Familienmausoleum der Ephrussi beigesetzt. Es ist ein kleiner dorischer Tempel, den er mit charakteristischer Voraussicht im jüdischen Teil des Zentralfriedhofs für die Ephrussi-Sippe hatte errichten lassen; sein Vater, der Patriarch Joachim, war dorthin umgebettet worden. Sehr biblisch, denke ich, mit seinem Vater zusammen begraben zu sein und Platz für die Söhne vorzusehen. In seinem Testament bestimmte er Legate für siebzehn seiner Bediensteten, vom Kammerdiener Sigmund Donnebaum (1380 Kronen) und dem Butler Josef (720 Kronen) bis zum Portier Alois (480 Kronen) und den Hausmädchen Adelheid und Emma (140 Kronen). Er bat Viktor, aus seiner Sammlung ein Bild für seinen Neffen Charles auszusuchen; hier entdecke ich plötzlich eine Zärtlichkeit, eine Erinnerung des Onkels an den belesenen jungen Neffen und seine Notizbücher vierzig Jahre zuvor. Was Viktor wohl unter all den schwer vergoldeten Rahmen gefunden haben mag?
    Und so erbte Viktor mit seiner frisch angetrauten jungen Frau das Bankhaus Ephrussi, Verpflichtungen, die Wien mit Odessa, St. Petersburg, London und Paris verknüpften. Zu dieser Erbschaft gehörten das Palais Ephrussi, diverse Gebäude in Wien, eine riesige Kunstsammlung, ein goldenes Tafelservice mit dem eingravierten doppelten E und die Verantwortung für die siebzehn Bediensteten, die im Palais arbeiteten.
    Viktor zeigte Emmy ihre neue Wohnung im Nobelstock. Ihr Kommentar war kurz und bündig: »Es schaut aus wie das Foyer in der Oper.« Das Paar entschied, sich im zweiten Stock einzurichten, dort gab es weniger Deckenmalereien, weniger Marmor um die Türen. Ignaz’ Räume waren für die gelegentlichen Feste vorgesehen.
    Die frisch verheirateten Eheleute, meine Urgroßeltern, haben einen Logensitz an der Ringstraße, einen Logensitz mit Blick auf das neue Jahrhundert. Und die Netsuke - mein schlafender Mönch, über seine Bettlerschale gebeugt, der Hirsch, der sich am Ohr kratzt - haben ein neues Heim.
     
    »Eine große rechteckige Schachtel, wie Kinder sie zeichnen«
     
    Die Vitrine muss irgendwo aufgestellt werden. Das Paar hat sich dafür entschieden, den Nobelstock als Erinnerungsort an Ignaz zu belassen; Viktors Mutter Emilie hat sich Gott sei Dank entschlossen, in ihr Grandhotel in Vichy zurückzukehren, wo sie kuren und ihre Zofen schikanieren kann. So haben sie eine ganze Etage im Palais für sich. Sie ist natürlich bereits mit Bildern

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