Der Hase mit den Bernsteinaugen
seiner Freunde stammen aus Künstlerkreisen und vom Theater, er ist zuhause in etlichen Hauptstädten und ebenso untadelig gekleidet wie seine Schwester. Großonkel Iggie erinnerte sich, in seiner Kindheit einmal in einem Hotel in Biarritz, wo sie alle den Sommer verbrachten, einen Blick in Pips’ Ankleidezimmer geworfen zu haben. Die Tür des Kleiderschranks stand offen, an der Stange hingen acht gleiche Anzüge, alle weiß: eine Epiphanie, eine Himmelsvision.
Pips taucht als Protagonist in einem vielgelesenen Roman des deutsch-jüdischen Romanciers Jakob Wassermann auf, eine Art mitteleuropäische Version von John Buchans Richard Hannay in »The Thirty-Nine Steps«. Der ästhetische Held ist Kumpan von Erzherzogen und überlistet Anarchisten. Er ist beschlagen in Inkunabeln und Renaissance-Kunst, rettet seltene Juwelen und ist beliebt bei jedermann. Das Buch trieft vor Vernarrtheit.
Eine weitere Tuschezeichnung im Album zeigt Emmy beim Tanz auf einem Ball, den Oberkörper zurückgebogen, während ein schlanker junger Mann sie auf dem Tanzboden herumwirbelt. Ein Verwandter, nehme ich an, der geschmeidige Tänzer ist ganz sicher nicht Viktor. Eine Zeichnung zeigt Paul Schey, beinahe verdeckt von der Neuen Freien Presse, auf seiner Stuhllehne sitzt eine in sich gekehrte Eule. Evelina beim Eislaufen. Zwei Beine in gestreiften Badehosen tauchen in den Badeteich in Kövecses. Auf jeder Karte sind auch Likör- oder Wein- oder Schnapsfläschchen und einige Notenzeilen zu sehen.
Die Karten stammen von Joseph Maria Olbrich. Er stand als Künstler im Zentrum der fortschrittlichen Secession und entwarf das Gebäude der Künstlervereinigung in Wien mit seinem Eulenfries und der Kuppel aus vergoldeten Lorbeerblättern, ein stilles, elegantes Refugium mit Wänden, die er als »weiß und glänzend, heilig und keusch« beschrieb. Da wir uns in Wien befinden, wo alles scharf beäugt wird, gab es auch ätzende Kommentare. Das Grab des Mahdi, nannten es spitze Zungen. Krematorium. Die filigrane Kuppel wurde zum »Krauthappel«, zum Kohlkopf. Ich sehe mir Olbrichs Album genau an, aber es ist ein nicht mehr aufzulösendes Akrostichon, es gibt keinen Schlüssel für das Rätsel. Warum der Schnaps, warum jenes Musikstück? Es ist sehr wienerisch, ein urbaner Blick auf ihr Landleben in Kövecses. Ein Fenster in Emmys Welt, auf eine ganze warme Welt voll innerfamiliärer Spaße.
Wieso hast du nicht gewusst, dass du das hast?, frage ich meinen Vater. Was steckt denn noch in dem Koffer unter deinem Bett?
Liberty Hall
Ich bin zuversichtlich, dass es über Emmy von Ephrussis Eheleben in Wien weniger zu rätseln geben wird. Das ist Stadtleben mit einer ganz anderen Art Familie und mit einem eigenen, unveränderlichen Rhythmus, nur zehn Minuten zu Fuß vom Zuhause ihrer Kindheit in jenem anderen Palais.
Der neue Rhythmus begann bald nach der Rückkehr aus den Flitterwochen, als Emmy erkannte, dass sie schwanger war. Elisabeth, meine Großmutter, kam neun Monate nach der Hochzeit auf die Welt. Viktors Mutter Emilie - auf meinem IJorträt wirkt sie verbindlich und unerschütterlich mit ihren Perlen - starb bald danach mit vierundsechzig Jahren in Vichy. Sie wurde dort begraben statt in Ignaz’ großem Mausoleum, und ich möchte wissen, ob sie diese letzte Trennung geplant hatte.
Nach Elisabeth folgt die drei Jahre später geborene Gisela; Ignaz - Klein Iggie - ist der dritte. Die Namen dieser Wiener Kinder vorausblickender jüdischer Eltern wurden mit Bedacht gewählt. Elisabeth ist nach der verstorbenen verehrten Kaiserin benannt, Gisela nach Erzherzogin Gisela, der Tochter des Kaisers. Beim Sohn Iggie ist es einfach: Ignaz Leon erhält seinen Namen nach seinem verstorbenen Großvater und nach seinem reichen, kinderlosen Pariser Onkel, dem Duellanten, dazu nach seinem verstorbenen Großonkel Leon. Die Pariser haben nur Töchter; Gott sei Dank gibt es endlich einen Sohn für die Ephrussi. Und das Palais ist groß genug, um Kinder- und Schulzimmer außer Hörweite zu haben.
Das Palais kennt seinen täglichen Trott, für die Bedienten manchmal schneller, manchmal langsamer. Es gibt viel die Gänge entlangzutragen. Endloses Herbeischleppen von heißem Wasser ins Ankleidezimmer, Kohlen ins Arbeitszimmer, Frühstück ins Frühstückszimmer, die Morgenzeitung ins Arbeitszimmer, gedeckte Schüsseln, Wäsche, Telegramme, dreimal täglich Post, Botschaften, Kerzenhalter für das Abendessen, die Abendzeitung in Viktors
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