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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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Ankleidezimmer.
    Auch Anna, Emmys Zofe, hat ihren Tagesablauf. Er beginnt, wenn sie um halb acht in einer Silberkanne das warme Wasser und ein Tablett mit englischem Tee in Emmys Schlafzimmer bringt. Er endet erst spätabends, wenn sie Emmys Haar gebürstet und ihr ein Glas Wasser und einen Teller Kohlekekse gebracht hat.
    Im Hof des Palais steht ein Fiaker mit einem livrierten Kutscher den ganzen Tag bereit. Es gibt zwei schwarze Kutschpferde, Rinalda und Arabella. Eine zweite Kutsche ist dazu da, die Kinder in den Prater oder nach Schönbrunn zu fahren. Die Kutscher warten. Der Portier Alois steht neben dem riesigen Tor zur Ringstraße, bereit, die Flügel zu öffnen.
    Wien, das bedeutet Abendgesellschaften. Endlos wird über die Tischordnung debattiert. Jeden Nachmittag decken der Butler und ein Diener mit einem Zentimetermaß den Tisch. Kann man ohne Bedenken Enten aus Paris bestellen, wenn sie am Tag zuvor in Kisten mit dem Orient-Express angeliefert werden? Floristen kommen; bei einem Diner stehen da Reihen kleiner Orangenbäumchen, die ausgehöhlten Orangen mit Parfait gefüllt. Die Kinder dürfen durch ein Guckloch zusehen, wenn die Gäste eintreffen.
    An manchen Tagen empfängt man Nachmittagsbesuche; die Teetafel ist gedeckt, auf einem großen Silbertablett dampft ein silberner Samowar: daneben Teekanne, Milchkännchen und Zuckerdose, Tabletts mit Sandwiches und glasierten Kuchen von Demel, dem Hofzuckerbäcker am Kohlmarkt nahe der Hofburg. Die Damen haben ihre Pelze im Vorraum abgelegt, die Offiziere ihre Kappen und Degen, die Herren halten ihre Zylinder und Handschuhe und legen sie neben ihren Stühlen auf den Boden.
    Auch das Jahr hat seinen geregelten Ablauf.
    Der Januar bietet die Gelegenheit, mit Viktor dem winterlichen Wien zu entfliehen, nach Nizza oder Monte Carlo. Die Kinder bleiben daheim. Viktor und Emmy besuchen Viktors Onkel Maurice und Tante Beatrice in der neuen rosafarbenen Villa Ilede-France in Cap Ferrat - heute die Villa Ephrussi-Rothschild. Sie bewundern die Sammlungen französischer Bilder, französische Empiremöbel, französisches Porzellan. Bestaunen die Fortschritte im Garten; nach dem Vorbild der Alhambra hat man einen Teil des Hügels abgetragen und einen Kanal gegraben. Die zwanzig Gärtner sind alle in Weiß gekleidet.
    April, das ist Paris mit Viktor. Die Kinder bleiben daheim. Sie wohnen chez Fanny im Hotel Ephrussi an der Place d’Iena, Emmy geht einkaufen, Viktor verbringt seine Tage im Büro von Ephrussi et Cie. Doch Paris ist nicht mehr dasselbe.
    Charles Ephrussi, der hochgeschätzte Besitzer der Gazette, Ritter der Ehrenlegion, Unterstützer der Künstler, Freund der Dichter, Sammler der Netsuke, Viktors Lieblingscousin, ist am 30. September 1905 mit fünfundfünfzig Jahren gestorben.
    Die Anzeige in den Zeitungen ersuchte Personen ohne Einladung, nicht zum Begräbnis zu kommen. Die Sargträger - seine Brüder, Theodore Reinach, der Marquis de Cheveniers - weinten. Zahlreiche Nachrufe erschienen, man sprach von seiner »delicatesse naturelle«, seiner Geradlinigkeit und seinem Anstandsgefühl. Die Gazette veröffentlichte einen schwarz gerahmten Nachruf: »Mit Bestürzung und tiefer Trauer haben alle, die ihn kannten, Ende September von der plötzlichen Erkrankung und dem Tod des liebenswürdigen und guten, des so klugen Mannes erfahren, der Charles Ephrussi war. In der Pariser Gesellschaft, besonders in der Welt der Künste und Wissenschaften, hatte er zahlreiche Freundschaften mit Menschen geschlossen, die wie von selbst dem Zauber und der Gewandtheit seines Umgangs, der Erhabenheit seines Geistes und der Zartheit seines Herzens erlagen. Jeder, der mit ihm zu tun hatte, war hingerissen von seinen bestrickenden Manieren und seiner Freundlichkeit, bezaubert von seiner scharfsinnigen und lehrreichen Unterhaltung, seinem großzügigen und enthusiastischen Wesen und vor allem von jener unendlichen Güte, die der hervorstechendste Zug seines Charakters war und ihn sich allem, was er liebte, mit solcher Selbstverleugnung hingeben ließ.«
    Proust schreibt einen Kondolenzbrief an den Verfasser des Nachrufs. Wenn man seinen Nekrolog in der Gazette lese, würden all jene, die Monsieur Ephrussi nicht kannten, ihn lieben, und jene, die ihn kannten, von Erinnerungen an ihn erfüllt sein. Charles hat Emmy testamentarisch ein goldenes Halsband vermacht, Louise eine Perlenkette und sein Vermögen seiner Nichte Fanny Reinach, die mit dem Hellenisten verheiratet ist.
    Ein Schock ist

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