Der Hase mit den Bernsteinaugen
es, dass Charles’ Bruder Ignaz Ephrussi, der mondäne Duellant und Liebhaber der Frauen, mit sechzig ebenfalls an einer Herzkrankheit gestorben ist. Man erinnert sich an den gewandten Reiter, der früh am Morgen auf dem »á la russe« aufgezäumten Grauschimmel im Bois de Boulogne unterwegs war. Großzügig und korrekt hat er den drei Ephrussi-Kindern Elisabeth, Gisela und Iggie jeweils 30000 Francs hinterlassen, sogar Emmys jüngere Schwestern Gerty and Eva erhalten etwas. Die Brüder sind beide im Familiengrab am Montmartre beigesetzt, neben ihren seit langem verstorbenen Eltern und der geliebten Schwester.
Bald nach dem Besuch in Paris - das nun, da Charles und Ignaz es nicht mehr mit Leben erfüllen, viel öder wirkt - kommt der Sommer. Er beginnt im Juli bei den Gutmanns, jüdischen Financiers und Philanthropen, den engsten Freunden von Viktor und Emmy. Sie haben fünf Kinder, und so sind Elisabeth, Gisela und Iggie für etliche Wochen auf ihren Landsitz Schloss Jaidhof etwa achtzig Kilometer von Wien eingeladen. Viktor bleibt in Wien.
August, das ist die Schweiz im Chalet Ephrussi, mit den Pariser Cousins Jules und Fanny. Die Kinder und Viktor kommen mit. Wenig zu tun. Man versucht die Kinder ruhig zu halten. Lässt sich von Paris erzählen. Fährt mit dem Boot auf den Vierwaldstättersee, vom Bootshaus mit der kaiserlich-russischen Flagge aus, einer der Diener rudert. Fährt zum Concours Hippique in Luzern, um das Springreiten zu sehen, Jules chauffiert, nachher Eis bei Hugeni.
September und Oktober mit Kindern und Eltern, Pips und vielen Cousins in Kövecses. Viktor kommt hin und wieder auf ein paar Tage. Schwimmen, Spazierengehen, reiten, schießen.
In Kövecses hat sich eine kuriose Schar zusammengefunden, um Emmys Schwestern Gerty und Eva zu erziehen, zwölf und fünfzehn Jahre jünger als sie. Dazu gehören eine französische Zofe, die ihnen einen ordentlichen Pariser Akzent beibringen soll, ein ältlicher Hauslehrer, der sie Lesen, Schreiben und Rechnen lehrt, eine Gouvernante aus Triest für Deutsch und Italienisch und schließlich ein gescheiterter Konzertpianist, Herr Minotti, bei dem die Mädchen in Musik und Schach unterrichtet werden. Emmy gibt ihnen Englischdiktate und liest mit ihnen Shakespeare. Dann ist da noch der ältere Wiener Schuster, der die weißen Wildlederstiefelchen anfertigt, auf die Evelina so großen Wert legt. Als er erkrankt, darf er sich auf dem Gut erholen, er bekommt ein hübsches, sonniges Zimmer und bleibt für den Rest seines Lebens, er kümmert sich um ihre Fußbekleidung und um die Hunde.
Patrick Leigh Fermor hielt sich während seiner Fußwanderung quer durch Europa in den dreißiger Jahren in Kövecses auf; seiner Beschreibung nach atmete es immer noch die Atmosphäre eines englischen Pfarrhauses, mit Stapeln von Büchern in allen möglichen Sprachen, die Tische voller eigenartiger Sachen aus Hirschhorn und Silber. Hier sei »Liberty Hall«, hier könne jeder tun, was ihm gefalle, sagte Pips, der ihn in seinem perfekten Englisch in die Bibliothek bat. Kövecses atmete die Selbstgenügsamkeit, die entsteht, wenn sich in einem großen Haus viele Kinder tummeln. Im blauen Ordner meines Vaters liegt das vergilbte Manuskript eines Stücks namens »Der Großherzog«, das die Cousins und Cousinen in einem Sommer vor dem Ersten Weltkrieg im Salon aufführten. Kleinkinder unter zwei Jahren und Hunde waren nicht zugelassen.
Jeden Abend nach dem Abendessen spielt Herr Minotti am Klavier. Die Kinder unterhalten sich mit »Kims Spiel«. Verschiedene Dinge - eine Kartenschachtel, ein Kneifer, eine Muschel, einmal, wie spannend, Pips’ Revolver - werden auf ein Tablett gelegt und dreißig Sekunden lang gezeigt. Dann wird ein Tuch darübergelegt, und man muss aufschreiben, welche Dinge man behalten hat. Ärgerlich, dass Elisabeth jedes Mal gewinnt.
Pips lädt seine kosmopolitischen Freunde zu Besuchen ein.
Dezember ist Wien und Weihnachten. Obwohl sie Juden sind, begehen sie das Fest mit vielen Geschenken.
Emmys Leben scheint gemeißelt, nicht unbedingt in Stein, aber in Bernstein. Es wirkt konserviert, als würde es aus einer Reihe von Anekdoten bestehen, preziösen Genregeschichten, denen zu entgehen ich mir versprach, als ich vor einem Jahr begann. Die Netsuke scheinen sehr weit weg, während ich das Palais umrunde.
Ich bleibe noch ein wenig länger in der Pension Baronesse in Wien. Meine Brille hat man mir liebenswürdigerweise reparieren lassen, aber die Welt scheint
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