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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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immer noch leicht verquer. Ich werde meine Befürchtungen nicht los. Mein Onkel in London hat für mich Informationen gesucht und eine Schilderung von zwölf Seiten ausfindig gemacht, die meine Großmutter Elisabeth über ihr Aufwachsen im Palais geschrieben hat, ich habe sie mitgebracht, um sie am Ort zu lesen. Es ist ein sonniger Morgen und atemberaubend kalt; ich nehme sie mit ins Cafe Central. Durch die Spitzbogenfenster fällt Licht, eine Figur des Dichters Peter Altenberg sitzt hier, die Speisekarte in der Hand, alles ist sehr aufgeräumt und picobello. Das war Viktors zweites Kaffeehaus, denke ich, bevor alles aus den Fugen geriet.
    Das Kaffeehaus, diese Straße, Wien selbst ist ein Themenpark: ein Set für einen Film über das Fin de Siecle, glitzernder Secessionsstil. Fiaker mit Kutschern in Pelerinenmänteln rollen gemächlich durch die Gegend, die Kellner tragen altmodische Schnurrbarte. Überall Strauß, seine Klänge quellen aus jedem Schokoladengeschäft. Ich erwarte, dass Mahler zur Tür hereinkommt oder Klimt sich mit jemandem in die Haare gerät. Mir fällt ein schrecklicher Film ein, den ich Jahre zuvor an der Uni sah. Er spielte in Paris, andauernd schlenderte Picasso vorüber, Gertrude Stein und James Joyce unterhielten sich beim Pernod über die Moderne. Das ist das Problem, das ich hier habe, wird mir klar, während ein Klischee nach dem anderen auf mich einstürmt. Mein Wien ist zum Wien anderer Leute ausgedünnt.
    Ich habe die siebzehn Romane und Novellen von Joseph Roth gelesen, dem österreichisch-jüdischen Romancier; einige spielen in Wien in den letzten Jahren des Habsburgerreichs. Roth schreibt es nach der russischen Manier - deponiert Trotta im »Radetzkymarsch« sein Vermögen. Ignaz Ephrussi selbst wird in »Das Spinnennetz« als reicher Juwelier porträtiert: »hager und groß, immer schwarz gekleidet, in einer hohen, schwarzen Weste, deren Ausschnitt nur ein Stückchen schwarzer, mit einer haselnußgroßen Perle geschmückten Kragenbinde frei ließ«. Seine Frau, die schöne Frau Efrussi, ist »eine Dame, jüdisch, aber eine Dame«. »Alle hatten es leicht«, sagt Theodor, der junge, verbitterte, nichtjüdische Held des Romans, der als Hauslehrer bei der Familie angestellt ist, »am leichtesten die Glasers und Efrussis … Bilder in Goldrahmen hingen im Vestibül, und ein Diener in grün-goldener Livree empfing und verneigte sich.«
    Die Realität gleitet mir immer wieder aus den Händen. Die Lebensläufe meiner Familie in Wien sind durch Bücher gebrochen, ebenso wie derjenige von Charles in Prousts Paris. Die Abneigung gegen die Ephrussi kehrt in Romanen immer wieder.
    Ich verliere den Halt. Mir wird klar, dass ich nicht weiß, was es bedeutet, zu einer assimilierten, akulturierten jüdischen Familie zu gehören. Ich verstehe es einfach nicht. Ich weiß, was sie nicht getan haben: Sie gingen nie in die Synagoge, aber die Geburten und Hochzeiten wurden im Rabbinat verzeichnet. Ich weiß, dass sie ihre Beiträge zur Israelitischen Kultusgemeinde entrichteten und jüdischen Wohltätigkeitsvereinen Geld spendeten. Ich habe Joachims und Ignaz’ Mausoleum im jüdischen Teil des Zentralfriedhofs besucht, das zerbrochene Schmiedeeisengitter störte mich, und ich überlegte, ob ich es reparieren lassen sollte. Der Zionismus scheint für sie wenig Anziehungskraft besessen zu haben. Ich erinnere mich an die rüde Bemerkung Herzls vom Spekulanten Ephrussi, als er um Spenden bat und abgewiesen wurde. Ob es reine Verlegenheit war angesichts des inbrünstig Jüdischen dieser Unternehmung und sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten? Oder war es ein Symptom ihres Vertrauens in ihre neue Heimat hier in der Zionstraße oder in der Rue de Monceau? Sie sahen einfach nicht ein, wozu andere ein zweites Zion brauchten.
    Bedeutet Assimilation, dass sie es nie mit nacktem Vorurteil zu tun bekamen? Bedeutet es zu verstehen, wo die Grenzen des eigenen Gesellschaftskreises gezogen sind und dass man sie einfach nicht überschreitet? Es gab einen Jockey-Club in Wien, so wie in Paris, und Viktor war Mitglied, Juden durften aber keine Funktionen ausüben. Hat ihm das etwas ausgemacht? Es bestand Einvernehmen darüber, dass verheiratete nichtjüdische Frauen niemals jüdische Wohnungen aufsuchten, nie eine Visitenkarte abgaben, nie an einem der endlosen Nachmittage Besuche abstatteten. Wien bedeutete, dass nur nichtjüdische Junggesellen, Graf Mensdorff, Graf Lubienski, der junge Fürst Montenuovo,

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