Der Hase mit den Bernsteinaugen
Karten abgaben und dann eingeladen wurden. Waren sie einmal verheiratet, kamen sie nicht mehr, egal wie gut die Diners waren oder wie hübsch die Gastgeberin. Machte das etwas aus? So spinnwebdünne Fädchen von Zurückweisung.
Den letzten Vormittag dieses Aufenthalts verbringe ich im Archiv der Kultusgemeinde in der Nähe der Synagoge in der Seitenstettengasse. Ein Polizist steht in der Nähe. Bei den letzten Wahlen hat eine Rechtsaußenpartei beinahe ein Drittel der abgegebenen Stimmen erhalten, keiner weiß, ob die Synagoge nicht zur Zielscheibe werden wird. Es hat so viele Drohungen gegeben, dass ich einen komplizierten Sicherheitscheck passieren muss. Als ich endlich drinnen bin, sehe ich zu, wie der Archivar die Foliomappen herauszieht, einen gestreiften Band nach dem anderen, und sie auf das Lesepult legt. Jede Geburt, jede Hochzeit, jeder Todesfall, jeder Übertritt: Das ganze jüdische Wien ist hier getreulich verzeichnet.
1899 hat Wien eigene jüdische Waisenhäuser und Krankenhäuser, Schulen und Büchereien, Zeitungen und Zeitschriften. Es gibt zweiundzwanzig Synagogen. Und, so wird mir klar, ich weiß über das alles nichts: Die Familie Ephrussi ist so perfekt assimiliert, dass sie im Gewebe der Stadt verschwunden ist.
Das süße Mädel
Elisabeths Erinnerungsschrift wirkt wie ein Tonikum: zwölf unsentimentale Seiten, die sie in den 1970er Jahren für ihre Söhne verfasst hat. »Das Haus, in dem ich geboren wurde, stand und steht noch immer, äußerlich unverändert, an der Ecke des Rings …« Sie erzählt Einzelheiten über den Tagesablauf im Haus, sie nennt die Namen der Pferde, und sie führt mich durch die Räume im Palais. Jetzt werde ich endlich herausfinden, denke ich, wo Emmy die Netsuke versteckt hat.
Wenn Emmy aus dem Kinderzimmer tritt, sich nach rechts wendet und den Gang entlanggeht, kommt sie an die Seite des Hofes, wo sich die Küche und die Spülküche, die Speisekammer und das Silberzimmer befinden - dort brennt den ganzen Tag das Licht; dann das Zimmer des Butlers und das Dienerzimmer. Am Ende des Flurs sind die Zimmer der Hausmädchen, deren Fenster nur auf den Innenhof gehen; gelbliches Licht sickert durch das Glasdach, aber keine Frischluft. Das Zimmer ihrer Zofe Anna ist irgendwo da hinten.
Wendet Emmy sich nach links, kommt sie in ihren Salon. Die Wände sind mit blassgrüner Seide bespannt, die Teppiche von einem sehr blassen Gelb. Die Möbel sind Louis XV, Stühle und Fauteuils mit Intarsien, Bronzebeschlägen und dicken gestreiften Seidenkissen. Da und dort stehen Tischchen, jedes mit seiner Garnitur Nippes, und ein größerer Tisch, auf dem Emmy die komplizierte Prozedur der Teezubereitung vornehmen kann. Auch einen Flügel gibt es, keiner spielt darauf, dazu einen Kabinettschrank mit Falttüren im Stil der italienischen Renaissance, innen bemalt und mit sehr kleinen Schubladen, an denen die Kinder nicht herumfingern sollen, sie tun es aber trotzdem. Wenn Elisabeth zwischen die vergoldeten, spiralig gedrehten Säulchen beiderseits eines Bogens fasst und nach oben drückt, kommt mit leisem Ächzen ein winziges Geheimfach zum Vorschein.
Es ist licht in diesen Räumen, zitternde Reflexionen, Geglitzer von Silber und Porzellan, poliertem Obstbaumholz, Schatten von den Lindenbäumen. Im Frühjahr werden jede Woche von Kövecses Blumen geschickt. Eine perfekte Umgebung, um die Vitrine mit Cousin Charles’ Netsuke aufzustellen - aber hier ist sie nicht.
Geht man vom Salon aus weiter, kommt man in die Bibliothek, den größten Raum in diesem Stockwerk des Palais. Sie ist in Schwarz und Rot gehalten, wie Ignaz’ Suite im Stockwerk darunter, mit einem schwarz-roten türkischen Teppich und langen Ebenholzregalen an den Wänden, breiten tabakfarbenen Lehnsesseln und Sofas. Ein großer Messingleuchter hängt über einem Ebenholztisch mit Elfenbeinintarsien, flankiert von zwei Globen. Es ist Viktors Zimmer, an den Wänden steht Buch an Buch, Tausende, griechische und römische Geschichte, deutsche Literatur, seine Gedichtbände, seine Lexika. Einige Bücherschränke haben ein feines goldenes Gitter und sind versperrt, den Schlüssel trägt er an seiner Uhrkette. Immer noch keine Vitrine.
Weiter geht es von der Bibliothek ins Speisezimmer, die Wände behängt mit Gobelins mit Jagdmotiven, die Ignaz in Paris gekauft hat, die Fenster blicken auf den Innenhof, doch die Vorhänge sind zugezogen, so dass hier ständiges Dämmerlicht herrscht. Das muss der Esstisch sein, wo das
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