Der Hase mit den Bernsteinaugen
Namen. Aber ob nicht das Rot in den neunzig Jahren verblasst war?
Nach wie vor hoffe ich, die Netsuke würden sich als Schlüssel zum gesamten Wiener Geistesleben herausstellen. Ich habe Angst, ein Mr. Casaubon zu werden und mein Leben mit Listen und Anmerkungen zu verbringen. Ich weiß, dass die Wiener Intelligenzia verwirrende Objekte liebt und dass das intensive Betrachten eines Gegenstandes ein besonderes Vergnügen bietet. Während die Kinder jeden Abend die Vitrine öffnen, während Emmy sich ankleidet, brütet Loos über der Gestaltung eines Salzstreuers, Freud über einem Versprecher, wütet Kraus über eine Annonce in einer Zeitung, eine Phrase im Leitartikel der Neuen Freien Presse. Aber es ist nicht zu leugnen, Emmy liest keinen Adolf Loos, sie schafft es, weder Klimt zu mögen (»ein Bär mit den Manieren eines Bären«) noch Mahler (»Krach«), und sie kauft überhaupt nichts von der Wiener Werkstätte (»Ramsch«). »Sie nahm uns nie in eine Ausstellung mit«, heißt es im Erinnerungstext meiner Großmutter.
Ich weiß, dass in den 1910er Jahren kleine Objekte, Fragmente, en vogue sind, und Emmy ist sehr wienerisch. Was denkt sie über die Netsuke? Sie hat sie nicht gesammelt, sie wird keine weiteren hinzufügen. Es gibt natürlich auch andere Sachen in Emmys Welt, die man aufnehmen und woanders hinlegen kann. Es gibt die Nippes im Salon, die Tassen und Untertassen aus Meißner Porzellan, russisches Silber und Malachit auf dem Kaminsims. Amateurzeugs für die Ephrussi, Hintergrundgeräusch für die Putti, die wie plumpe Fasane über ihren Köpfen schweben, nicht wie bei Tante Beatrice Ephrussi-Rothschild, die bei Faberge Uhren für ihre Villa in Cap Ferrat bestellt.
Emmy liebt allerdings Geschichten, und die Netsuke sind heitere kleine Elfenbeingeschichten. Sie ist dreißig; erst zwanzig Jahre ist es her, seit sie unweit von hier an der Ringstraße in einem Kinderzimmer aufgewachsen ist und ihre Mutter ihr selber Märchen vorlas. Heute liest sie die Beiträge unter dem Strich in der Neuen Freien Presse, das tägliche Feuilleton.
Über dem Strich stehen die politischen Nachrichten, Nachrichten aus Budapest, die letzten Aussprüche von Bürgermeister Karl Lueger, dem Herrgott von Wien. Unter dem Strich steht das Feuilleton. Jeden Tag findet sich hier ein reizend formulierter, wohltönender Essay. Er kann von der Oper oder Operette handeln oder von einem bestimmten Gebäude, das eben abgerissen wird. Es könnte auch eine schalkhafte Erinnerung an volkstümliche Figuren des alten Wien sein. Die Frau Sopherl, die Standlerin vom Naschmarkt, Herr Adabei, der über alles Bescheid weiß, Statisten in einer Potemkinschen Stadt. Jeden Tag erscheint so etwas, mild und narzisstisch, ein fein gedrechselter Satz schlingt sich um den anderen, süß wie Bäckereien von Demel. Herzl, einer der Ersten dieses Genres, sagte vom Feuilletonisten, er sei in Gefahr, »als Narziß sich in den eigenen Geist zu verlieben und dadurch jeden Maßstab für sich und andere zu verlieren«; man kann dabei zusehen. Sie sind so perfekt, eine kurze humoristische Phrase, ein wegwerfender, flüchtiger Blick auf Wien; in den Worten Walter Benjamins: »… es galt, das Gift der Sensation der Erfahrung gleichsam intravenös einzuspritzen; das heißt der geläufigen Erfahrung den Erlebnischarakter abzumerken. Der Feuilletonist macht sich das zunutze. Er verfremdet dem Großstädter die Stadt.« In Wien gibt der Feuilletonist die Stadt sich selbst zurück, als vollkommene, empfindungsgesättigte Fiktion.
Ich sehe die Netsuke als einen Teil dieses Wien. Viele von ihnen sind für sich schon japanische Feuilletons. Sie bilden jene Art japanischer Charaktere ab, die von Besuchern Japans in lyrischen Klageliedern besungen werden. Lafcadio Hearn, ein amerikanisch-griechischer Journalist, schreibt in »Glimpses of Unfamiliar Japan« (»Lotos. Blicke in das unbekannte Japan«), »Gleanings in Buddha-Fields« (»Buddha. Neue Geschichten und Studien aus Japan«) und in »Shadowings« darüber, jeder kurze Blick oder zusammenfassende Essay eine poetische Beschwörung: »Die Schreie der Wanderhändler heben an - >Daikoyai! kabuya-kabu!< -, jene der Verkäufer von daikon und anderen exotischen Gemüsen. >Moyaya-moya!< - der klagende Ruf der Frauen, die dünne Kienspäne für das Anzünden der Kohlefeuer feilbieten.«
In der Vitrine in Emmys Ankleidezimmer liegen der Fassbinder, gerahmt vom Bogen seines halbfertigen Fasses; die Straßenringkämpfer aus
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