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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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bedauernswerteres wienerisches Stereotyp?) sich seine Pension auszahlen lässt, um Aktien zu kaufen, und alles verliert. Seine Tochter, gespielt von Greta Garbo, umschattete Augen, schwach vor Hunger, ist gezwungen, in einem Nachtclub zu arbeiten. Die Rettung kommt von einem hübschen Herrn vom Roten Kreuz, ein Gentleman und Lieferant von Konservendosen.
    Der Antisemitismus gewann in diesen Jahren in Wien zunehmend an Boden. Bei lautstarken Demonstrationen wurde gegen die »Pest des Ostjudentums« gehetzt, doch Iggie erinnerte sich, dass sie darüber gelacht hatten, ebenso wie über die Massenaufmärsche der Jugendgruppen in ihren protzigen Uniformen und über die Österreicher in ihren Trachten, ihren Dirndln und Lederhosen. Es gab viele solcher Umzüge.
    Besonders bedrohlich wirkten die Krawalle auf den Stufen der Universität zwischen den wiedererstandenen alldeutschen Burschenschaften und den jüdischen und sozialistischen Studenten. Iggie erinnerte sich an das zornbleiche Gesicht seines Vaters, wenn Gisela und er dabei erwischt wurden, wie sie diese blutigen Schlägereien vom Salonfenster aus beobachteten. »Sie dürfen nicht sehen, dass ihr zuschaut!«, brüllte er, der Mann, der nie die Stimme erhob.
    Mit dem Kampfruf »Haltet die österreichischen Alpen judenrein!« wurden Juden aus dem Deutsch-österreichischen Alpenverein ausgeschlossen. Alpenvereinsmitglieder hatten Zutritt zu Hunderten Berghütten, wo sie übernachten und auf Spirituskochern Kaffee zubereiten konnten.
    Wie viele ihrer Altersgenossen gingen Iggie und Gisela im Frühsommer in die Berge. Sie fuhren mit dem Zug nach Gmunden und zogen dann los, jeder mit einem Rucksack, einem Wanderstock und einem Schlafsack, Schokolade und ein bisschen Kaffee und Zucker, in braunes Papier eingeschlagen; Milch, harte Semmeln und eine Schnitte gelben Käse bekam man bei den Bauern. Es war aufregend, aus der Stadt fortzukommen. Einmal, erzählte mir Iggie, waren wir mit einer Freundin Giselas unterwegs und wurden hoch oben in den Bergen von der Dämmerung überrascht. Es war schon kalt, aber da war eine Hütte, um den Ofen saßen Studenten, es ging munter zu. Sie fragten nach unseren Ausweisen, und dann befahlen sie uns zu verschwinden, Juden würden die Bergluft verpesten.
    Das machte nichts, sagte Iggie, etwas weiter unten haben wir eine Almhütte gefunden, aber unsere Freundin Franzi hatte einen Vereinsausweis und konnte in der Hütte bleiben. Wir haben nie darüber geredet.
    Es war durchaus möglich, nicht über Antisemitismus zu sprechen; nichts davon zu hören, das ging nicht. Es gab keinen politischen Konsens darüber, was ein Politiker in Wien sagen durfte und was nicht. Der Romancier und Provokateur Hugo Bettauer machte die Probe aufs Exempel, als er 1922 »Die Stadt ohne Juden« herausbrachte, einen »Roman über den Tag nach morgen«. Darin erzählt er die Geschichte eines von Nachkriegsarmut und dem Aufstieg eines Demagogen - ein Lueger-Doppelgänger namens Dr. Karl Schwertfeger - geprägten Wien, der die Bevölkerung auf simple Weise eint: »Sehen wir dieses kleine Österreich von heute an. Wer hat die Presse und damit die öffentliche Meinung in der Hand? Der Jude! Wer hat seit dem unheilvollen Jahre 1914 Milliarden auf Milliarden gehäuft? Der Jude! Wer kontrolliert den ungeheuren Banknotenumlauf, sitzt an den leitenden Stellen in den Großbanken, wer steht an der Spitze fast sämtlicher Industrien? Der Jude! Wer besitzt unsere Theater? Der Jude!«
    Bundeskanzler Schwertfeger hat eine einfache Lösung: Österreich wird die Juden hinauswerfen. Alle, darunter auch die Kinder aus Mischehen, werden systematisch in Zügen abtransportiert. Will ein Jude heimlich in Wien bleiben, riskiert er die Todesstrafe.
    »Um ein Uhr mittags verkündeten Sirenentöne, daß der letzte Zug mit Juden Wien verlassen, um sechs Uhr abends läuteten sämtliche Kirchenglocken zum Zeichen, daß in ganz Österreich kein Jude mehr weilte.«
    Der Roman mit seinen schaurigen Beschreibungen vom schmerzlichen Auseinanderbrechen der Familien, von verzweifelten Szenen am Bahnhof, während plombierte Waggons die Juden wegschaffen, schildert den Abstieg Wiens zu einer trübseligen, hinterwäldlerischen Stadt, nachdem die Juden, das belebende Element, verschwunden sind. Theater, Zeitungen, Klatsch, Mode, Finanzleben liegen darnieder, bis Wien die Juden schließlich wieder zurückholt.
    1925 wurde Bettauer von einem jungen Nationalsozialisten ermordet. Dessen Verteidiger beim Prozess

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