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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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Revolution geben würde oder nicht. Demobilisierte Soldaten und Kriegsgefangene kamen mit Berichten von der Revolution in Russland und von den Arbeiterprotesten in Berlin nach Wien zurück. Nachts wurde immer wieder wahllos geschossen. Die neue österreichische Flagge war rot-weiß-rot; zweimal durchgerissen, einmal zusammengenäht, und die jungen Hitzköpfe hatten eine rote Fahne.
    Aus jedem Winkel der alten Monarchie kamen Beamte ohne Land nach Wien und erkannten dort, dass ganze kaiserliche Ministerien, an die sie ihre gewissenhaften Berichte übermittelt hatten, nicht mehr existierten. Auf den Straßen sah man viele »Zitterer« - Männer, die an Schützengrabenneurose litten und am ganzen Körper bebten, dazu Amputierte mit an die Brust gehefteten Auszeichnungen. Hauptmänner und Majore verkauften Holzspielsachen. Unterdessen fanden Bündel der monogrammbestickten kaiserlichen Wäsche ihren Weg in bürgerliche Haushalte; kaiserliche Sättel und Pferdegeschirre waren auf den Märkten zu haben, und angeblich waren Sicherheitswachebeamte in die Keller der Hofburg vorgedrungen und tranken sich nun durch die Weinkeller der Habsburger.
    Wien mit seinen knapp zwei Millionen Einwohnern war aus der Metropole eines Reichs mit zweiundfünfzig Millionen zur Hauptstadt eines winzigen Landes mit sechs Millionen Menschen mutiert; es konnte den Umsturz einfach nicht verkraften. Man diskutierte, ob Österreich als unabhängiger Staat überhaupt lebensfähig sei. Lebensfähigkeit hatte nicht nur mit der Wirtschaft zu tun, es war auch eine psychologische Frage. Österreich schien mit seinem Verlust nicht umgehen zu können. Der harte »punische Friede«, den man mit dem Vertrag von Saint-Germain-en-Laye 1919 geschlossen hatte, bedeutete die Zerstückelung der Monarchie. Er sanktionierte die Unabhängigkeit Ungarns, der Tschechoslowakei, Polens und des SHS-Staates, des Staates der Slowenen, Kroaten und Serben. Istrien war verloren. Triest war verloren. Etliche dalmatinische Inseln waren abgeschnitten; aus Österreich-Ungarn wurde Österreich, ein achthundert Kilometer langes Land. Harte Reparationsbestimmungen waren erlassen worden. Die Armee wurde als 30000 Mann starkes Freiwilligenheer wiedererrichtet. Wien, so ging der bittere Scherz, war der »Wasserkopf« eines eingeschrumpelten Körpers.
    Vieles änderte sich, darunter Namen und Adressen. Der Zeitgeist schaffte alle Adelstitel ab - es gab kein »von« mehr, keine Ritter, Barone, Grafen, Fürsten, Herzöge. Jeder Postbeamte, jeder Eisenbahner hatte seinem Namen ein k.k. voranstellen können, damit war es jetzt vorbei. Aber da dies Österreich war, ein sehr titelverliebtes Land, wucherte eben eine Unzahl anderer Titel. Man konnte ein Habenichts sein, legte aber Wert darauf, als Dozent, Professor, Hofrat, Schulrat, Direktor angesprochen zu werden. Oder als Frau Dozent, Frau Professor.
    Auch die Straßen hießen nun anders. Die Familie von Ephrussi wohnte nicht mehr am Franzensring 24, Wien I, benannt nach dem Habsburger Kaiser; die Familie Ephrussi wohnte am Ring des Zwölften November 24, benannt nach dem Tag der Befreiung von den Habsburger-Kaisern. Emmy beschwerte sich, dieses Umbenennen sei ziemlich französisch, sie würden noch in der Rue de la Republique landen.
    Alles war möglich. Die Krone hatte so sehr an Wert verloren, dass es Spekulationen gab, die neue Regierung werde eventuell die kaiserlichen Kunstsammlungen verkaufen, um Lebensmittel für die hungernde Wiener Bevölkerung zu beschaffen. Schönbrunn, so hieß es, solle an ein fremdes Konsortium verkauft und in eine Spielhölle umgewandelt werden. Die Botanischen Gärten sollten umgepflügt werden und als Baugrund für Wohnhäuser dienen.
    Mit dem Zusammenbruch der Wirtschaft begannen »großmäulige Leute aus allen Teilen der Welt herbeizuströmen, um Banken, Fabriken, Schmuck, Teppiche, Kunstwerke oder Grundstücke zu kaufen, und die Juden waren dabei nicht die letzten. Ausländische Kredithaie, Schwindler und Fälscher strömten nach Wien und die Läuseplage kam mit ihnen.« Das ist der Hintergrund für den Film »Die freudlose Gasse«. Licht aus Autoscheinwerfern streicht über die Schlange, die sich nachts vor einem Fleischhauergeschäft gebildet hat. »Manche haben die ganze Nacht gewartet und werden dann mit leeren Händen weggeschickt.« Ein hakennasiger »internationaler Spekulant« plant, die Aktien einer Bergbaugesellschaft wertlos zu machen, während ein verwitweter Beamter (gab es ein

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