Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
Vom Netzwerk:
funktionieren könne. Mochten sich auch Kommunisten auf den Wiener Straßen tummeln, Mises wollte die ökonomischen Argumente finden, sie zu widerlegen. In seinem Privatissimum trugen ausgewählte Studenten ihre Arbeiten vor. Am 26. November 1918, eine Woche nach Rudolfs Geburt, hielt Elisabeth ihr erstes Referat über »Carvers Zinstheorie«. Die Studenten von Mises erinnerten sich an die tiefschürfenden Untersuchungen in diesen Seminaren, aus denen eine berühmte Schule der freien Marktwirtschaft hervorging. Ich besitze Elisabeths Seminararbeiten über »Inflation und Geldknappheit« (15 Seiten kleine Kursivschrift), über »Kapital« (32) und über »John Henry Newman« (38 Seiten).
    Elisabeths Leidenschaft aber gehörte der Poesie. Sie schickte ihre Gedichte an ihre Großmutter und an ihre Freundin Fanny Löwenstein-Scharffeneck, die damals in einer Galerie für moderne Kunst arbeitete, wo auch die Bilder Egon Schieies zum Verkauf standen.
    Elisabeth und Fanny liebten die lyrische Poesie des Rainer Maria Rilke. Sie erfüllte sie ganz: Die jungen Frauen kannten die beiden Bände seiner »Neuen Gedichte« auswendig und warteten ungeduldig auf eine neue Veröffentlichung: Sein Schweigen schien unerträglich. Rilke war Rodins Sekretär in Paris gewesen; ihm zu Ehren waren die Mädchen nach dem Krieg mit Rilkes Buch über den Bildhauer ins Musee Rodin gepilgert. Elisabeth hielt ihre Begeisterung in hingekritzelten Ausrufezeichen in der Randspalte fest.
    Rilke war der große radikale Dichter von damals. In seinen »Dinggedichten« verband er Direktheit des Ausdrucks mit intensiver Sinnlichkeit. »Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muss noch bestimmter sein, von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt …«, schrieb er. Seine Gedichte sind voller Epiphanien, jenen Augenblicken, in denen die Dinge Leben gewinnen - die erste Bewegung einer Tänzerin als Aufflammen eines Schwefelzündholzes. Oder von Momenten, in denen das Sommerwetter umschlägt, ein Stimmungswandel, als sähe man jemanden zum ersten Mal.
    Und sie künden von Gefahr; »jede Kunst ist das Ergebnis einer Gefahr, in der man war, einer bis zum Ende durchgestandenen Erfahrung, dort wo es nicht weiterging«. Das bedeutet es, ein Künstler zu sein, sagt er, und es stockt einem der Atem. Man schwebt am Rand des Lebens, wie ein Schwan, vor »seinem ängstlichen Sich-Niederlassen in die Wasser, die ihn sanft empfangen«.
    »Du mußt dein Leben ändern«, schrieb Rilke in seinem Gedicht über den »Archaischen Torso Apollos«. Konnte es eine aufregendere Anweisung geben?
    Erst nach Elisabeths Tod im Alter von zweiundneunzig Jahren realisierte ich, wie wichtig Rilke für sie gewesen war. Ich wusste, dass es einige Briefe gab, aber das war ein Gerücht, ein gedämpfter Trommelwirbel, der von ferner Herrlichkeit kündete. Als ich an einem Winternachmittag im Innenhof des Palais Ephrussi vor der Statue des Apollo mit seiner Leier stand und mir stockend Rilkes Gedicht in Erinnerung zu rufen versuchte, während der Marmor wie »Raubtierfelle« flimmerte, wusste ich, dass ich sie finden musste.
    Elisabeth war Rilke von ihrem Onkel vorgestellt worden. Pips war Rilke behilflich gewesen, als der in Deutschland vom Kriegsausbruch überrascht worden war. Nun lud er ihn nach Kövecses ein: »Sollten Sie Ihren jetzigen Wohnsitz dauernd oder vorübergehend aufgeben wollen, dann bitte ich Sie allen Ernstes daran zu denken, daß dieses Haus hier jederzeit Ihnen offen steht und daß Sie uns Allen eine herzliche Freude bereiten, wenn Sie sich >sans ceremonie< hier ansagten.« Pips bat, ob seine Lieblingsnichte Rilke einige Gedichte schicken dürfe. Im Sommer 1921 schrieb Elisabeth überaus aufgeregt an Rilke, legte »Michelangelo« bei, ein Versdrama, und fragte, ob sie es ihm widmen dürfe. Es folgte eine lange Pause bis zum Frühjahr - Rilke vollendete damals eben die »Duineser Elegien« -, dann aber schrieb er einen fünfseitigen Brief, und damit begann ein Briefwechsel zwischen der zwanzigjährigen Studentin in Wien und dem fünfzigjährigen Dichter in der Schweiz.
    Zunächst kam eine Absage. Er wollte keine Widmung. Die beste Widmung sei es, das Gedicht zu veröffentlichen: »… ich würde gerne diese Pathenschaft bei Ihrem Erstling annehmen, wenn Sie, sie auszusprechen, eine Form fänden, die mich nicht namentlich anführt.«
    »Aber«, fährt der Brief fort, »ich wäre interessiert zu sehen, was Sie schreiben.« Sie schrieben einander in den nächsten fünf

Weitere Kostenlose Bücher