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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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Buch für die Schulkinder der Monarchie, »Unser Kaiserpaar«. Es beschreibt den neuen Kaiser, seine Frau und den Sohn beim Begräbnis Franz Josephs. »Hinter dem Sarge schritt, von Kaiser und Kaiserin geführt, ein anmutiges Kind mit blondem Ringelhaar, das kurz vorher Abschied genommen hatte vom toten Großonkel.«
    Am 18. April besuchen Elisabeth und Emmy »Hamlet« im Burgtheater, der unwahrscheinlich gutaussehende Alexander Moissi spielt die Titelrolle. »Der größte Eindruck meines Lebens«, schreibt Elisabeth in ihr grünes Notizbuch. Emmy ist achtunddreißig und im zweiten Monat schwanger.
    In diesem Frühling gibt es gute Nachrichten für die Familie. Emmys jüngere Schwestern verloben sich. Gerty, siebenundzwanzig, wird Tibor heiraten, einen ungarischen Aristokraten mit dem Familiennamen Thuröczy de Alsö-Körösteg et Turocz-Szent-Mihäly. Eva, fünfundzwanzig, wird Jenö heiraten, der einen weniger imposanten Namen trägt: Baron Weiß von Weiß und Horstenstein.
    Im Juni herrscht eine Streikwelle. Die Mehlration beträgt bloß noch fünfunddreißig Gramm pro Tag, eine Kaffeetasse voll. Zahlreiche Brottransporte werden von Frauen und Kindern belagert. Ab Juli gibt es keine Milch mehr. Nur noch stillende Mütter und chronisch Kranke erhalten welche, aber auch für sie ist es schwierig. Viele Wiener können nur überleben, weil sie auf den Feldern vor der Stadt nach Kartoffeln graben. In der Regierung debattiert man über Rucksäcke. Sollen Stadtbewohner sie tragen dürfen? Und falls ja, soll man sie an den Bahnstationen durchsuchen?
    Im Hof gibt es Ratten. Keine Elfenbeinratten mit Bernsteinaugen.
    Es finden auch immer mehr Demonstrationen gegen die Juden statt. Am 16. Juni tritt in Wien eine »Deutsche Volksversammlung« zusammen, die dem deutschen Kaiser Treue schwört und das Ziel einer alldeutschen Vereinigung bekräftigt. Ein Redner hat eine Lösung für die Probleme: Ein Pogrom soll die Wunden des Staates heilen.
    Am 18. Juni ersucht ein hoher Polizeibeamter Viktor um Erlaubnis, im Hof des Palais, wo das Auto nutzlos herumsteht - Benzin ist keines zu haben -, Männer stationieren zu dürfen. Die Polizei kann auf diese Weise in Bereitschaft stehen, falls Unruhen drohen, aber außer Sichtweite bleiben. Viktor erteilt sein Einverständnis.
    Die Desertionen nehmen um ein Vielfaches zu. Mehr Mitglieder der k.u.k. Armee ergeben sich, als kämpfen wollen; 2,2 Millionen Soldaten werden gefangen genommen, siebzehnmal mehr als britische Kriegsgefangene.
    Am 28. Juni erhält Elisabeth ihr Jahreszeugnis vom Schottengymnasium. Sieben »Sehr gut« in Religion, Deutsch, Latein, Griechisch, Geographie und Geschichte, Philosophie, Physik, ein »Gut« in Mathematik. Am 2. Juli nimmt sie ihr Maturazeugnis entgegen, die Stempelmarke zeigt den Kopf des alten Kaisers. Das gedruckte Wort »er« ist durchgestrichen und durch ein mit blauer Tinte geschriebenes »sie« ersetzt worden. Es ist heiß. Emmy ist im fünften Monat, der Sommer liegt noch vor ihr. Ein Baby wird geliebt und gehegt werden, natürlich - aber was für Umstände!
    August in Kövecses. Für die Gartenarbeit stehen nur zwei alte Männer zur Verfügung, die Rosen an der langen Veranda wirken vernachlässigt. Am 22. September hören Gisela, Elisabeth und Tante Gerty in der Oper»Fidelio«. Am 25. sehen sie »Hildebrand« im Burgtheater, und Elisabeth registriert einen Erzherzog im Publikum. Brasilien erklärt Österreich den Krieg. Am 18. Oktober übernehmen die Tschechen in Prag die Macht, setzen die Habsburger ab und erklären ihre Unabhängigkeit. Am 29. Oktober ersucht Österreich Italien um einen Waffenstillstand. Am 2. November um zehn Uhr abends heißt es, gewalttätige italienische Kriegsgefangene seien aus einem Internierungslager bei Wien ausgebrochen und in die Stadt eingedrungen. Um Viertel nach zehn werden die Nachrichten immer präziser: Es seien 10000 oder 13 000, russische Kriegsgefangene hätten sich ihnen angeschlossen. In den Kaffeehäusern an der Ringstraße erscheinen Boten und fordern Offiziere auf, sich im Polizeihauptquartier zu melden. Viele tun das. Zwei Offiziere rufen den Besuchern zu, die eben die Oper verlassen, sie sollten heimgehen und ihre Türen verriegeln. Um elf Uhr berät sich der Polizeipräsident mit Militärs über die Verteidigung Wiens. Um Mitternacht verkündet der Innenminister, die Berichte seien stark übertrieben gewesen. Beim Morgengrauen gibt man zu, es habe sich nur um ein Gerücht gehandelt.
     
    Am 3.

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