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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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November wird die österreichisch-ungarische Monarchie aufgelöst. Am nächsten Tag unterzeichnet Österreich einen Waffenstillstand mit den Alliierten. Elisabeth geht ins Burgtheater und sieht »Antigone« mit dem Cousin Fritz von Lieben. Am 9. November dankt Kaiser Wilhelm ab. Am 12. November flüchtet Kaiser Karl in die Schweiz, Österreich wird Republik. Vor dem Palais drängen sich den ganzen Tag die Massen, viele tragen rote Fahnen, sie strömen zum Parlament.
    Am 19. November bringt Emmy einen Sohn zur Welt.
    Er ist blond und blauäugig und erhält den Namen Rudolf Josef. Man kann sich kaum einen wehmütigeren Namen für einen Buben vorstellen, jetzt, wo die Habsburgermonarchie zusammenbricht.
    Es ist alles sehr, sehr schwierig. Eine Grippewelle tobt, Milch ist nicht zu bekommen. Emmy ist krank: Seit Iggies Geburt sind zwölf Jahre vergangen, achtzehn seit der Geburt ihres ersten Kindes. Im Krieg schwanger zu sein ist nicht einfach. Viktor ist achtundfünfzig und konsterniert über seine neuerliche Vaterschaft. Neben der Überraschung über die Geburt des Kleinen und all den Schwierigkeiten - und die sind mannigfaltig - macht es Elisabeth sehr zu schaffen, dass die meisten denken, das Kind sei ihres. Immerhin ist sie achtzehn, ihre Mutter und Großmutter haben beide früh Kinder bekommen. Gerüchte gehen um. Die Ephrussi bewahren Haltung.
    In dem kurzen Erinnerungstext schreibt sie über damals: »Ich kann mich an wenig Einzelheiten erinnern, nur an unsere große Angst und Furcht.«
    Aber »inzwischen«, fügt sie in einer letzten, triumphierenden Zeile hinzu, »hatte ich an der Universität inskribiert«. Sie war entkommen. Sie hatte es von der einen Seite der Ringstraße auf die andere geschafft.
     
    »Buchstäblich gleich Null«
     
    1918 herrschte in Wien ein besonders kalter Winter; im weißen Porzellanofen in der Ecke des Salons brannte das einzige Feuer, das Tag und Nacht genährt werden konnte. Überall sonst - im Esszimmer, in der Bibliothek, den Schlafzimmern und im Ankleidezimmer mit den Netsuke - war es bitterkalt. Azetylenlampen verbreiteten einen widerlichen Gestank. In diesem Winter gingen die Wiener in den Wienerwald, um Brennholz zu sammeln. Rudolf war kaum vierzehn Tage alt, als die Neue Freie Presse berichtete, nur ein schwacher Schimmer Licht sei hinter manchen Fenstern zu sehen. Die Stadt liege im Dunkel. Das beinahe Undenkbare war eingetreten: Es gab keinen Kaffee, nur eine namenlose Mischung, die nach Fleischextrakt und Lakritze schmeckte. Tee, natürlich ohne Milch und Zitrone, sei ein wenig besser, wenn man sich an den ständigen Blechgeschmack gewöhnen könne. Viktor weigerte sich, ihn zu trinken.
    Versuche ich mir das Familienleben in den Wochen nach der Niederlage vorzustellen, dann sehe ich Papierfetzen auf den Straßen treiben. Wien war immer so proper gewesen. Nun war es voller Plakate und Wandanschläge, Broschüren und Demonstrationen. Iggie erinnerte sich, wie er einmal die Papierumhüllung einer Eistüte auf den Kiesweg im Prater fallen gelassen hatte und daraufhin von der Nanny gerügt und von Männern mit Epauletten zusammengestaucht worden war. Jetzt kämpfte er sich auf dem Weg zur Schule durch den Abfall der bedrohlich zuckenden, lärmenden Stadt. An die Litfaßsäulen klebten die aufgebrachten Wiener neuerdings Briefe an die »christlichen Einwohner Wiens«, an die »Mitbürger«, an die »Brüder und Schwestern im Kampfe«. Und diese Papierschichten wurden dann wieder heruntergerissen und durch neue ersetzt. Wien war argwöhnisch und laut geworden.
    Emmy und ihr Neugeborenes hatten in den ersten Wochen sehr zu kämpfen; sie und Rudolf wurden immer schwächer. Der englische Ökonom William Beveridge, der Wien sechs Wochen nach der Niederlage besuchte, schrieb: »Mütter unternehmen heldenhafte Anstrengungen und stillen ihre Kinder, um sie ein Jahr lang am Leben zu halten, aber das geht jetzt nur auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit, und oft geschieht es vergeblich.« Man überlegte, Emmy und Rudolf aus der Stadt nach Kövecses zu bringen, auch Gisela und Iggie sollten dorthin, aber es war kein Benzin für das Auto zu bekommen und bei den Eisenbahnen herrschte Chaos. Also blieben sie im Palais, in den etwas ruhigeren Räumen abseits der Ringstraße.
    Zu Kriegsbeginn hatte sich das Haus sehr exponiert angefühlt, ein vom öffentlichen Raum umschlossenes Privathaus. Nun schien der Frieden erschreckender als der Krieg: Es war unklar, wer wen bekämpfte, ob es eine

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