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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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war der Gründer der österreichischen Nationalsozialisten, was der Partei in der tief gespaltenen politischen Landschaft einiges Prestige verlieh. In diesem Sommer drangen achtzig junge Nazis in ein überfülltes Restaurant ein und brüllten: »Juden hinaus!«
    Zur tristen Stimmung jener Jahre trugen die Auswirkungen der Inflation bei. Wenn man frühmorgens am Gebäude der Österreichischungarischen Bank in der Bankgasse vorbeigehe, so hieß es, höre man die Druckerpressen rattern, die immer neues Geld druckten. Banknoten wurden ausgegeben, auf denen die Farbe noch feucht war. Manche Bankiers waren der Ansicht, man solle die Währung völlig umkrempeln und ganz von vorne beginnen. Die Rede ging vom Schilling.
    »Ein ganzer Winter von Banknoten und Nullen schneit vom Himmel. Hunderttausende, Millionen, aber jede Flocke, jeder Tausender schmilzt dir in der Hand«, schrieb der Wiener Romancier Stefan Zweig in seinem Romanfragment »Rausch der Verwandlung« über das Jahr 1919- »Während man schläft, schmilzt das Geld, es fliegt fort, während man die zerrissenen, holzbestöckelten Schuhe wechselt, um ein zweites Mal zum Verkaufsstand zu rennen, ist es zerblättert; immer ist man unterwegs, doch immer schon zu spät. Das Leben wird Mathematik, Addieren, Multiplizieren, ein toller, wirbeliger Kreis von Ziffern und Zahlen, und dieser Quirl reißt die letzten Habseligkeiten in sein schwarzes, unersättliches Nichts …«
    Viktor schaute in sein ganz persönliches Nichts: Im Safe im Büro abseits der Schottengasse lagen Stapel von Ordnern mit Dokumenten, Anleihen und Aktienzertifikaten. Sie waren wertlos. Dem Bürger eines besiegten Staates waren seine Vermögenswerte in London und Paris, die über vierzig Jahre aufgebauten Konten, das Geschäftsgebäude in der einen Stadt, die Anteile von Ephrussi et Cie in der anderen nach den Strafbestimmungen der Alliierten konfisziert worden. Im bolschewistischen Flächenbrand war das russische Vermögen - das Gold in St. Petersburg, die Anteile an den Ölfeldern von Baku, den Eisenbahnen und Banken, der Besitz, den Viktor in Odessa noch hielt - in Rauch aufgegangen. Es war nicht nur ein spektakulärer Geldverlust; hier waren gleich mehrere Vermögen verschwunden.
    Eine privatere Katastrophe: Am Höhepunkt des Krieges, 1915, war Jules Ephrussi, Charles’ älterer Bruder, der Besitzer des Chalets, gestorben. Wegen der Feindseligkeiten hatte er sein gigantisches Vermögen, das seit langem Viktor versprochen war, französischen Verwandten hinterlassen. Keine Empiremöbel mehr. Kein Monet mit Weidenzweigen, die übers Flussufer hängen. »Arme Mama«, schrieb Elisabeth, »all die langen Schweizer Abende vergeblich.«
    1914, vor dem Krieg, hatte Viktor ein Vermögen von fünfundzwanzig Millionen Kronen besessen, etliche Häuser in ganz Wien, das Palais Ephrussi, eine Sammlung Alter Meister und ein Jahreseinkommen von etlichen hunderttausend Kronen. Das entspricht heute grob geschätzt mehr als dreihundert Millionen Euro. Nun brachten sogar die zwei Etagen im Palais, die er für 50000 Kronen vermietete, kein zusätzliches Einkommen. Sein Entschluss, sein Geld in Österreich zu belassen, hatte sich als fatal herausgestellt. Der frischgebackene patriotische Österreicher hatte bis Ende 1917 massiv Kriegsanleihen gezeichnet. Auch sie waren wertlos.
    In Krisensitzungen am 6. und 8. März 1921 mit seinem alten Freund, dem Financier Rudolf Gutmann, gab Viktor den Ernst der Lage zu. Die Firma genieße, schrieb Gutmann am 4. April an einen deutschen Bankier, einen Herrn Schlieper, »in Wien und insbesondere auf der Börse den besten Ruf«. Das Bankhaus Ephrussi war immer noch lebensfähig, seine Stellung auf dem Balkan machte es zudem zu einem wichtigen Geschäftspartner. Die Gutmanns übernahmen einen Teil der Bank und brachten fünfundzwanzig Millionen Kronen ein, die Berliner Bank (eine Vorläuferin der Deutschen Bank) fünfundsiebzig Millionen. Viktor gehörte nun nur mehr die Hälfte der Familienbank.
    In den Archiven der Deutschen Bank finden sich viele Aktenordner mit Dokumenten, ein penibles Hin und Her über Prozentsätze, Protokolle der Besprechungen mit Viktor, Abkommen. Durch die Pappdeckel kann man immer noch die leisen Schwingungen von Viktors Stimme hören, im Diminuendo der Konsonanten seine Erschöpfung spüren. Das Geschäft sei »buchstäblich gleich Null«.
    Dieses Gefühl von Verlust, von der Schuld, eine Erbschaft nicht bewahrt zu haben, setzte Viktor sehr zu. Er war der

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