Der Hase mit den Bernsteinaugen
vergeht der ganze Nachmittag in rauchumnebelten Debatten darüber, was sich gerade abspielt. Seine historischen Kenntnisse werden Viktor nicht helfen.
TEIL DREI
Wien, Kövecses, Tunbridge Wells, Wien 1938-1947
»Eine geradezu ideale Lösung für Massenaufmärsche«
Am 10. März 1938 setzte man große Hoffnungen auf die Volksabstimmung. Am Abend zuvor hatte der österreichische Bundeskanzler in Innsbruck eine aufrüttelnde Rede gehalten und den Tiroler Volkshelden Andreas Hofer zitiert: »Mander, s’isch Zeit!« Es war ein prachtvoller Wintertag, heiter und klar. Überall Flugblätter, von Lastwagen geworfen, überall Plakate mit dem dramatischen »Ja!«. »Mit Schuschnigg für ein freies Österreich!« Kruckenkreuze der Vaterländischen Front waren in weißer Farbe auf die Hausmauern und auf das Pflaster gepinselt. In den Straßen drängten sich die Menschen, Gruppen Jugendlicher skandierten: »Heil Schuschnigg! Heil Freiheit!« Und: »Rot-Weiß-Rot bis in den Tod!« Das Radio spielte immer wieder die Schuschnigg-Rede. Die Israelitische Kultusgemeinde brachte die enorme Summe von 500000 Schilling auf, um die Kampagne zu unterstützen: Die Volksabstimmung war ein Schutzwall für die Wiener Juden.
Am Freitag dem 11. März wurde Schuschnigg vor Morgengrauen vom Wiener Polizeipräsidenten geweckt, der ihm von Truppenbewegungen an der deutschen Grenze berichtete. Der Eisenbahnverkehr war eingestellt. Ein weiterer heller, sonniger Morgen. Es war der letzte Tag Österreichs, ein Tag der Ultimaten aus Berlin und verzweifelter Anfragen Wiens, ob London oder Paris oder Rom es gegen die immer drängender werdenden Forderungen Deutschlands nach einem Rücktritt des Bundeskanzlers zugunsten eines hitlerfreundlichen Ministers, Arthur Seyß-Inquart, unterstützen würden.
Am 11. März spendete die IKG weitere 300 000 Schilling für Schuschniggs Kampagne. Es gab Gerüchte, Truppen hätten bereits die deutsche Grenze überschritten, die Volksabstimmung werde verschoben.
Das Radio - ein riesiges englisches Radio, braun und imposant, auf der Anzeigeskala die Namen der Hauptstädte - steht in der Bibliothek; Viktor und Emmy sind den ganzen Nachmittag über dort und hören zu. Sogar Rudolf ist bei ihnen. Um halb fünf bringt Anna Viktors Tee in einem Glas, auf der Porzellanuntertasse eine Scheibe Zitrone und Zucker; Emmy bekommt englischen Tee serviert, dazu die kleine blaue Dose aus Meißner Porzellan mit den Pillen für ihre Herzkrankheit. Rudolf, neunzehn und ein Querkopf, trinkt Kaffee. Anna stellt das Tablett auf den Bibliothekstisch mit dem Lesepult. Um sieben bringt Radio Wien die Nachricht, dass die Volksabstimmung verschoben sei, einige Minuten später meldet es dann den Rücktritt des gesamten Kabinetts, außer des Nazi-Sympathisanten Seyß-Inquart, der als Innenminister bleiben soll.
Um zehn vor acht folgt die Rede Schuschniggs:
»Österreicher und Österreicherinnen!
Der heutige Tag hat uns vor eine schwere und entscheidende Situation gestellt … Die Deutsche Reichsregierung hat dem Herrn Bundespräsidenten ein befristetes Ultimatum gestellt, nach dem der Herr Bundespräsident einen ihm vorgeschlagenen Kandidaten zum Bundeskanzler zu ernennen … widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich für diese Stunde in Aussicht genommen wurde … Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in diesen ernsten Stunden nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, für den Fall, daß der Einmarsch durchgeführt wird, ohne Widerstand sich zurückzuziehen und die Entscheidung der nächsten Stunden abzuwarten … So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volk mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!« Und dann kommt die Melodie des »Gott erhalte«, der ehemaligen Kaiserhymne.
Es ist, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Geräuschrinnsale laufen unten auf der Straße zusammen, die Schottengasse hallt von Stimmen. Sie schreien: »Ein Volk, ein Reich, ein Führer!« und: »Heil Hitler! Sieg Heil!« Und brüllen: »Juda verrecke!«
Eine Flut von Braunhemden. Taxis hupen, bewaffnete Männer sind auf den Straßen, und plötzlich tragen die Polizisten Armschleifen mit dem Hakenkreuz. Lastwagen rasen den Ring entlang, vorbei am Haus, an der Universität, Richtung Rathaus. Und die Lastwagen tragen Hakenkreuze, ebenso die Straßenbahnen, junge Männer, Knaben hängen heraus, schreien und winken.
Jemand
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