Der Hauch von Skandal (German Edition)
weitgehend schweigend gegessen; selbst Lottie, der erstaunlicherweise die Gründe zum Klagen ausgegangen zu sein schienen.
Jetzt streckte Joanna sich genüsslich in den dicken, warmen Fellen des Schlittens. Wenigstens überquerten sie an diesem Tag die Bergpässe und konnten durch weichen Schnee reisen, nicht mehr durch das steinige Gelände weiter unten im Tal.
Man konnte überhaupt nichts sehen. Der Nebel war wie eine dicke Decke, die sich nur ab und an so weit hob, dass man die kohlschwarzen Berge zu erkennen vermochte. Der Schnee knirschte unter den Kufen des Schlittens. Joanna wollte nicht glauben, dass eine Landschaft, die noch am Vortag so schön gewesen war, nun so trostlos aussehen konnte, bleigrau von Horizont zu Horizont, dunkel, steinig, entmutigend.
„Alles ist so grau in grau“, hatte sie geklagt, als sie aufgebrochen waren.
„Äußerst bedrückend“, hatte Lottie zugestimmt und war zu Joanna zwischen die Felle auf dem Schlitten geschlüpft. Erst hatte sie gar nicht mitfahren wollen und behauptet, noch nie Hunde mit so verrückten blauen Augen gesehen zu haben – bestimmt würden sie den Schlitten umstürzen. „Grau ist nie eine meiner Lieblingsfarben gewesen“, hatte sie hinzugefügt. „Es schmeichelt meinem Teint nicht.“
„Alex hat gesagt, dass das hier gutes Wetter ist und dass es manchmal zwanzig Tage ununterbrochen regnen kann“, bemerkte Joanna verdrießlich. „Wenn es nicht schneit, natürlich. Vielleicht sollten wir dankbar sein.“
„Meine Liebe, in dieser gottverlassenen Gegend gibt es nicht das Geringste, wofür man dankbar sein könnte. Bereust du es, hergekommen zu sein?“ Lottie sah Joanna aus wachen, dunklen Augen an. „Ich kann nicht glauben, dass Davids kleiner Bastard tatsächlich all diese Strapazen wert sein soll. Wir könnten jetzt im Park spazieren gehen oder Hüte in Mrs Piggotts Laden anprobieren.“ Sie wartete erst gar nicht auf eine Antwort, sondern plapperte munter weiter. „Hast du schon gehört, dass die Pariser Haube diesen Winter der letzte Schrei sein wird? Lady Cholmondeley unterstützt diesen Trend und findet, die Haube sollte mit Blumen dekoriert werden, aber ich werde ihr einen Strich durch die Rechnung machen und überall verkünden, dass ich Früchte bevorzuge. Ich habe vor, einen reizenden kleinen Kastorhut eigens für mich anfertigen zu lassen, verziert mit Pflaumen und Aprikosen. Was hältst du davon?“
Joanna war in Gedanken bei ihrer ersten Begegnung mit Nina gewesen und zuckte zusammen. „Bitte verzeih mir, Lottie“, sagte sie. „Ich habe gar nicht richtig zugehört.“
„Aber warum denn nicht?“, wollte Lottie gekränkt wissen.
„Ich habe an Nina gedacht“, gestand Joanna. „Ob ihr wohl das Spielzeug gefällt, das ich ihr mitgebracht habe?“
„Liebste Jo!“ Lotties Miene hellte sich auf. „Natürlich wird es ihr gefallen. Es ist schließlich von Hamleys! Sie wird ganz begeistert sein; vermutlich hat sie noch nie Spielzeug gesehen, eingesperrt in diesem schrecklichen Kloster mit all den Mönchen.“
Joanna runzelte die Stirn. „Nein, wahrscheinlich nicht. Es stimmt, ich kann ihr viele Dinge schenken, die sie noch nie zuvor gehabt hat …“
„Spielsachen und hübsche Kleider.“ Lottie nickte zufrieden. „Überleg nur, wie viel Spaß wir haben werden, wenn wir wieder in London sind und ein kleines Mädchen in Miniaturausgaben der neuesten Mode kleiden können! Sie wird wie ein richtiges Püppchen sein.“ Ihr Gesicht wurde nachdenklich. „Zumindest, wenn sie hübsch ist. Ich weiß nicht, was wir mit ihr machen sollen, wenn sie es nicht ist.“
„Lottie, Nina selbst ist kein Spielzeug“, mahnte Joanna. Ihr Kopf schmerzte. Plötzlich hätte sie am liebsten geweint und wusste gar nicht warum. Bestimmt freute Nina sich, wenn sie mit so vielen Geschenken überschüttet wurde. Welches Kind würde sich nicht darüber freuen? Und doch … Joanna dachte an die Kiste voller Bälle, Kreisel und Puppen auf dem Vorratskarren, und ihr wurde beklommen zumute. Sie wollte mit Alex reden und Trost darin finden, ihre Ängste mit ihm zu teilen, doch er ritt mit Dev, Owen und ihrem Führer voraus.
Spät am Nachmittag erreichten sie eine winzige Siedlung am Ufer eines breiten Fjords. Karl, der Pomorenführer, platzte beinahe vor Stolz.
„Hier ist er zu Hause, nicht wahr?“, fragte Joanna, als Alex ihnen vom Schlitten half. „So viel Russisch verstehe ich.“
Sie sah sich um. Das Dorf bestand aus einer kleinen Ansammlung von
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