Der Hauch von Skandal (German Edition)
wenn man nur etwas Geld und einen festen Platz im Leben hatte.
Ich würde sie auch lieb haben, dachte Joanna inbrünstig, als sie sah, wie die beiden kleinen Mädchen miteinander lachten. Ich will sie haben. Ich werde ihr alles geben, was sie braucht.
Aber in ihrem Innern brach etwas entzwei. Sie versuchte es aufzuhalten, aber der Spalt wurde immer breiter und breiter, und daraus erwuchs eine Verzweiflung, die sie zu überwältigen drohte.
In all ihren Gedanken und Plänen hatte sie nicht ein einziges Mal berücksichtigt, was Nina selbst sich vielleicht wünschte. Sie hatte nie in Betracht gezogen, dass Nina andere Verwandte haben könnte, die sie liebten und vermissen würden, wenn sie fort war.
Ich bin so selbstsüchtig gewesen, dachte Joanna. Ich habe immer nur an das gedacht, was ich wollte. Sie spürte, wie ihr Stück für Stück das Herz brach.
Der Abt betrachtete sie mit seinem wissenden Blick. „Wie ich sehe, ist Nina sehr glücklich hier, Hochwürdigster Vater Abt“, sagte sie. „Wir müssen uns über ihre Zukunft unterhalten und darüber, wie Lord Grant und ich dabei behilflich sein können, dass sie bei ihrer Familie bleiben darf, solange sie es möchte. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen?“
Sie drehte sich um und ging davon, ehe sie zu weinen anfing.
„Joanna!“ Im Laufschritt erreichte Alex den Innenhof des Klosters. Er war zutiefst besorgt. Aus Joannas Stimme hatte er den spröden Unterton herausgehört, den er inzwischen so gut kannte. Er bedeutete nicht, dass ihr die Sache gleichgültig war, im Gegenteil. Sie benutzte ihn zu ihrer Verteidigung, zum Selbstschutz. Er wusste, wie unglücklich sie sein musste, und bei dem Gedanken wurde ihm beinahe übel.
Er hatte ihr sofort folgen wollen, doch Vater Starostin hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt und ihn zurückgehalten.
„Ihre Gattin ist eine außergewöhnliche Frau“, sagte der Abt., „So großzügig und selbstlos, dass sie zuerst an das Glück des Kindes denkt und nicht an ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte.“
„Ja“, stimmte Alex zu. Er schüttelte den Kopf. Er konnte nicht glauben, was Joanna eben getan hatte, wusste er doch, wie verzweifelt sie sich Nina gewünscht hatte. „Da gibt es natürlich noch einiges, was wir besprechen müssen. Formalitäten, die finanzielle Regelung …“
Vater Starostin tätschelte seinen Arm. „Wir sind auch ohne all das bislang sehr gut zurechtgekommen. Es gibt keine finanziellen Verpflichtungen, Lord Grant.“ Er sah zu Nina hinüber, die in ihr Spiel vertieft war. „Ich werde dafür sorgen, dass sie die Wahrheit erfährt, wenn sie alt genug ist“, versprach er sanft. „Über ihren Vater – und auch über Lady Grants Großherzigkeit. Vielleicht möchte sie Ihnen eines Tages schreiben, Sie besuchen …“
„Natürlich“, erwiderte Alex.
„Schicken Sie Ihre Frau zu mir, wenn sie sich erholt hat, Lord Grant. Dann unterhalten wir uns darüber. Natürlich sind Sie beide in Bellsund willkommen, solange Sie zu bleiben wünschen.“
Alex hatte ihm gedankt und war gegangen, brennend vor Ungeduld, Joanna zu finden. Aber sie war bereits verschwunden. Der Himmel über dem Kloster hatte sich bezogen und war grau, Schneefall kündigte sich an. Der Wind hatte gedreht und wehte jetzt schneidend kalt aus Norden.
Lottie überwachte gerade das Abladen ihres Gepäcks, als Alex am Gästehaus ankam, und ausnahmsweise schien sie bester Laune zu sein. „Heißes Wasser!“, sagte sie strahlend. „Wärme! Junge Männer! Ich könnte mir durchaus vorstellen, hier zu leben.“
„Die jungen Männer sind Mönche, Mrs Cummings“, ermahnte Alex sie. „Bitte führen Sie sie nicht in Versuchung.“ Er fuhr sich ungeduldig mit der Hand durchs Haar. „Haben Sie Joanna gesehen? Wir waren eben beim Abt, und jetzt muss ich sie unbedingt finden …“
„Nun, sie ist nach draußen gegangen.“ Lottie zeigte in eine unbestimmte Richtung. „Sie meinte, sie könnte etwas länger weg sein …“
Alex rannte los, noch ehe sie den Satz vollendet hatte.
Er konnte Joanna nicht in der üppigen Schönheit des botanischen Gartens entdecken. Niedergeschlagen blieb er stehen und überlegte, was sie tun, wohin sie gehen würde, wenn sie so unglücklich und verzweifelt war, dass sie sich vor der Welt verstecken wollte. Sicher würde sie die Einsamkeit suchen, und auf Spitzbergen gab es unzählige Orte, wo sie diese auch finden konnte. Aber sie war zu Fuß unterwegs, und das in ihrem zweitbesten Paar Stiefel,
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