Der Heilige Krieg
der Stadt durch die Christen nicht in Betracht kam. Der byzantinische Kaiser war zwei Jahre vorher besiegt worden. Die Heilige Stadt wurde kampflos übergeben.
Wie aber ist der Blutrausch 450 Jahre später zu erklären? Sicher mit den unsäglichen Strapazen und enormen Verlusten der Christen auf dem Weg nach Jerusalem, wohl auch mit der zähen, wochenlangen Belagerung und mit dem angestauten Hass angesichts des Widerstands, nicht zuletzt aber auch mit religiöser Verblendung und Verirrung, die am Ende in Andersgläubigen nur noch Feinde sehen ließen.
Aus ihrem Selbstverständnis heraus hatten die Kreuzritter offenbar keine Schuldgefühle. Sie erachteten ihren Sieg als ein Zeichen der Zustimmung Gottes. Die überaus drastischen Überlieferungen des Geschehens gerade von christlicher Seite machen keinen Hehl aus dem beispiellosen Grauen. Das Bild der Muslime von der westlichen Christenheit wurde durch das Massaker nachhaltig geprägt, der Ruf der »Franken« war im sprichwörtlichen Sinne ruiniert, sie galten als mordende Banditen.
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Am 23. Juli 1099 wird Gottfried von Bouillon »Beschützer des Heiligen Grabes« und nimmt als Herrscher über Jerusalem den Davidsturm in Besitz.
Die Nachricht von der Eroberung Jerusalems verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Europa und in der muslimischen Welt, löste Zustimmung und Entsetzen aus. Urban II., der zum Kreuzzug aufgerufen hatte, erhielt davon keine Kunde mehr. Der Papst starb am 29. Juli 1099, noch bevor ihm die Botschaft übermittelt werden konnte. Byzanz, dessen Hilferuf den Kreuzzug legitimiert hatte, reagierte verhalten, es profitierte keineswegs von den militärischen Erfolgen. Anstatt die eroberten Territorien wieder der Herrschaft von Alexios’ Nachfolger Basileus in Konstantinopel zu übereignen, errichteten die westlichen Fürsten um Antiochia, Edessa und Tripolis eigene Kreuzfahrerstaaten.
Und Jerusalem?
Zunächst sollte Raimund von Toulouse zum ersten christlichen König der Heiligen Stadt gekrönt werden. Doch er hatte Skrupel – wurde hier doch einst Jesus Christus die Dornenkrone aufgesetzt. Außerdem fehlte ihm breite Unterstützung im Heer. So fiel die Wahl auf Gottfried von Bouillon, der einen Ausweg suchte und fand. Der künftige Herrscher über die Stadt verzichtete auf die Krone, nicht aber auf den Machtanspruch. Er nannte
sich »Beschützer des Heiligen Grabes« (advocatus sancti sepulcri) und nahm den Davidsturm in Besitz – das Symbol der Herrschaft über die Stadt. Lange sollte sie nicht währen: Der Herzog aus Niederlothringen starb nur acht Moate später. Ob er bei Kämpfen gegen die Muslime von einem Pfeil getroffen, vergiftet oder krank wurde, ist umstritten – um seinen Tod ranken sich Mythen und Legenden. Er wurde in der Grabeskirche in Jerusalem beigesetzt, die Inschrift auf der Grabplatte lautete Überlieferungen zufolge: »Hier ruht der berühmte Gottfried von Bouillon. Er eroberte dies Land für den christlichen Kult. Dass seine Seele mit Christus regiere. Amen!«
So folgte ihm etwa ein Jahr nach dem Einzug in Jerusalem sein Bruder Balduin nach. Er ließ sich krönen und gründete das Königreich Jerusalem, das für einige Jahrzehnte zu einer festen politischen und militärischen Größe im Nahen Osten wurde. Somit war das Heilige Land unter wichtigen Heerführern des ersten Kreuzzugs aufgeteilt. Damit entstand gleichzeitig ein Sperrriegel gegen die Muslime auf dem Weg nach Jerusalem und zwischen Asien und Afrika. Italienische Handelsstädte erhielten nach und nach Stützpunkte für ihre florierenden Geschäftsbeziehungen. Die Kreuzritter errichteten Festungen und Burgen, um die Pilger zu beschützen und die Machtstellung der Christen in Palästina und darüber hinaus zu sichern. Die Herrschaftsbildung durch die Kreuzfahrer markierte eine tiefe Zäsur in der Welt des Islam. Wie ein Keil ragten ihre Befestigungen in die muslimisch beherrschten Gebiete – letztlich war die schmale Landbrücke zwischen Afrika und Asien durch die Bastionen der Christen kontrolliert. Trotz lokaler Bündnisse mit islamischen Potentaten blieben die Beziehungen zwischen »Franken« und »Sarazenen« von Misstrauen und gegenseitiger Verachtung geprägt. Zwar lernte man kulturell voneinander und trieb Handel, war aber stets bereit, die Andersgläubigen im Konfliktfall zu bekämpfen – im Namen des Glaubens.
»Mittelalterliche Frömmigkeit ist für uns schwer nachvollziehbar. Das unvermittelte Nebeneinander von religiöser Verzückung
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