Der Heilige Krieg
Aufstände im Inneren das Imperium. Perspektivlose Medresestudenten und unzufriedene Soldaten machten in marodierenden Banden das Land unsicher, mitunter bildeten sie sogar schlagkräftige Rebellenarmeen. Viele Bauern verließen in diesen unsicheren Zeiten ihre Höfe und schlossen sich den aufständischen Gruppen an. In manchen Regionen kam die Landwirtschaft komplett zum Erliegen. In den Provinzen verfiel die Staatsmacht zusehends. Nur mit brutaler Gewalt konnten die Aufstände von den Gouverneuren, zumeist mit ihren eigenen
Truppen, niedergeschlagen werden.
Doch auch die Sultane nach Süleyman beharrten auf ihrem absoluten Machtanspruch, obwohl – oder gerade weil – sie immer abhängiger von ihrer Umgebung im Palast wurden. Auch die Janitscharen, die vom Sultan persönlich aufgestellte Elitetruppe, waren inzwischen eine eigenständige politische Kraft. Längst hatten sie das Heiratsverbot verworfen und die erbliche Zugehörigkeit zum Korps durchgesetzt. Jeder Sultan musste sich ihre Gunst erkaufen: So lautete ein Gebot, das der junge Herrscher Osman II. missachtete. Er hatte nach einem sieglosen Feldzug die Janitscharen öffentlich der Feigheit bezichtigt – eine schwere Demütigung. Außerdem hegte der Sultan andere Pläne, die den Janitscharen missfielen. Als er aber auch noch einen neuen, loyalen Truppenverband aufstellen wollte, kam es zum Aufstand eines Teils der Janitscharen. Sie setzten Osman II. 1622 gefangen und strangulierten ihn mit einer Seidenschnur zu Tode. Es war die erste Hinrichtung eines Sultans in der Geschichte des Osmanischen Reiches – ein Ereignis, das die Grundfesten des Staates erschütterte.
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Osman II. hoch zu Ross. Seine Hinrichtung löste eine Staatskrise aus.
Mit der politischen Instabilität ging die Besinnung auf konservative Werte einher. Das Reich kapselte sich ab, »eine Welt für sich, deren Austausch mit der Außenwelt geringeres Gewicht hatte als die innerosmanische Dynamik«, erläutert der Historiker Christoph Neumann. Während in Europa in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Grundlagen für die Epoche der Aufklärung geschaffen wurden, klammerten sich viele Gelehrte im Osmanischen Reich an vermeintlich göttliche Gewissheiten. Sie propagierten ein Weltbild, das in Traditionen erstarrte – und schufen damit ein geschlossenes System, in dem Originalität und Fortschritt kaum eine Chance hatten.
»Schwere und gewaltsame politische Krisen traten vor allem dann auf, wenn die Staatseinnahmen nicht zur Deckung der Ausgaben reichten oder es militärische Niederlagen gab.«
Christoph Neumann,
Historiker und Turkologe
Es gab keine mediale Revolution und kaum technologischen Fortschritt im Osmanischen Reich, es entstanden kein Bürgertum und kein Bankenwesen. Das Zeitalter der Entdeckungen fand ohne die Osmanen statt. Sie gründeten keine Überseekolonien, während Europa die Welt unter sich aufteilte und ausbeutete. Und doch waren die Auswirkungen des europäischen Kolonialismus auch im Osmanischen Reich deutlich spürbar. Der Zufluss von spanischem Silber aus Amerika trieb die Inflation in die Höhe. Die Seidenstraße und das Mittelmeer büßten ihre wirtschaftliche Ausnahmestellung ein. Die findigen europäischen Kaufleute, die dank ihrer »Kapitulationen« blendende Geschäfte im Osmanischen Reich machten, überfluteten den Markt mit Billigwaren und beuteten dafür die Ressourcen des Riesenreichs aus.
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Großwesir Kara Mustafa wollte 1683 unbedingt Wien erobern.
In dieser schwierigen Lage war jede Gelegenheit willkommen, um mit einem großen außenpolitischen Erfolg die Lage im Innern zu verbessern. Ende des 17. Jahrhunderts, unter der Herrschaft des schwachen Sultans Mehmed IV., schien sich eine solche Gelegenheit zu bieten – in Ungarn.
Seit 150 Jahren lagen sich das
Habsburgerreich und der osmanische Staat im geteilten Ungarn an einer Militärgrenze gegenüber. Dritte Kraft war der ungarische Adel, der sich weitgehend zum Protestantismus bekannt hatte. Als aber die Habsburger damit begannen, ihren Teil Ungarns zu rekatholisieren, weckten sie den erbitterten Widerstand des ungarischen Adels, der die Osmanen zu Hilfe rief.
Ein Feldzug gegen Habsburg mit dem Ziel, ganz Ungarn dem Reich einzuverleiben, war »im Rahmen der osmanischen Staatsräson durchaus vernünftig«, so der Historiker Walter Leitsch. Der Kaiser schien schwach, er wurde nicht einmal mit den ungarischen Aufständischen fertig – wie sollte er da der gesamten osmanischen
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