Der Heilige Krieg
Flottenteile waren dann praktisch eingesperrt. Das Ziel, sich Dardanellen und Bosporus einzuverleiben, bildete jahrhundertelang eine Konstante russischer Außenpolitik.
In der Tat wäre das Osmanische Reich seinem mächtigen Nachbarn längst zum Opfer gefallen, hätte es im 19. Jahrhundert nicht Unterstützung aus Westeuropa, vor allem vonseiten Großbritanniens, erhalten. Denn im »Großen Spiel« der Weltmächte um Einflusssphären, Märkte und Rohstoffe betrachteten die Briten vor allem Russland als Hauptkonkurrenten. Deshalb setzten sie alles daran, den »kranken Mann am Bosporus« am Leben zu erhalten, und ließen sich sogar in das verlustreiche Abenteuer des Krimkriegs ein, in dem eine englisch-französisch-türkische Allianz Russland besiegte. Auch die Befreiungskriege auf dem Balkan riefen noch einmal die europäischen Mächte auf den Plan. Als sich Serben, Griechen und Bulgaren mit russischer Unterstützung gegen die Herrschaft des Sultans auflehnten, sahen das die Politiker in Westeuropa mit durchaus gemischten Gefühlen und setzten alles daran, den Einfluss des Zaren zu begrenzen.
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Der Einzug des deutschen Kaisers Wilhelm II. in Jerusalem am 29. Oktober 1898 sorgte weltweit für Schlagzeilen.
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Der offizielle Anlass für die Kaiservisite in Jerusalem war die Einweihung der protestantischen Erlöserkirche. Das Kaiserpaar verlässt nach der Zeremonie das Gotteshaus.
Doch Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Karten neu gemischt. Denn nach Bismarcks Reichsgründung 1871 war in der Mitte des Kontinents ein mächtiger Staat herangewachsen, der das bis dahin herrschende Gleichgewicht der Kräfte verschob. Mit Wilhelm II. betrat schließlich ein Mann die politische Bühne, der keinen Zweifel daran ließ, dass er die Rolle eines Global Player beanspruchte. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass er im selben Jahr, in dem er das Osmanische Reich besuchte, auch eine andere Entscheidung traf, deren fatale Konsequenzen einige Jahre später zum Tragen kamen: Sie betraf den Ausbau der deutschen Kriegsflotte, womit er am Ende das britische Weltreich ins Lager der Feinde Deutschlands drängte.
Die Vision einer jüdischen Nation
1895 veröffentlichte Theodor Herzl ein kleines Buch mit dem Titel Der Judenstaat. Der 1860 in Budapest geborene jüdische Journalist hatte gerade in Paris die Dreyfus-Affäre erlebt: Ein jüdischer Offizier namens Alfred Dreyfus war der Spionage für das Deutsche Reich beschuldigt worden. Die Vorwürfe erwiesen sich als haltlos, und viele Jahre später wurde er tatsächlich rehabilitiert. Aber die Affäre wurde von wüsten antisemitischen Ausschreitungen in Paris begleitet – für Herzl ein letzter Anstoß, mit seiner Vision an die Öffentlichkeit zu treten: Nur in einem eigenen Staat, als unabhängige Nation, hätten Juden eine Chance, sich unbehelligt, frei und ihren Begabungen gemäß zu entfalten. 1897 organisierte Herzl den Ersten Zionistischen Weltkongress in Basel. Benannt nach »Zion«, einer biblischen Bezeichnung für Jerusalem, hatte sich der Zionismus ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: »… die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen«. Herzls politische Bewegung mündete 1948 in die Gründung des Staates Israel. Dem Ereignis war die größte Katastrophe in der Geschichte des jüdischen Volkes vorausgegangen: der Holocaust. Der von Herzl für unausrottbar gehaltene Antisemitismus hatte in Nazideutschland die Gestalt eines organisierten Völkermords angenommen. Herzl erlebte das nicht mehr. Er starb bereits 1904. Einige Jahre zuvor hatte er in seinem Tagebuch notiert:
»… in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.«
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Abdulhamid II. (1842 – 1918) war in den meisten Ländern Europas verhasst.
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Wilhelm II. hatte keine Probleme mit dem »Schlächter vom Bosporus«.
Unter diesen Vorzeichen war die kaiserliche Reise ins Heilige Land durchaus geeignet, bei den anderen Großmächten Misstrauen zu erregen. Bei einem Empfang in Damaskus sprach der Kaiser denn auch Worte, die international für Schlagzeilen sorgten: »Möge der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde zerstreut lebend, in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, dass
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