Der Heilige Krieg
immer mehr in den Hintergrund. Das Reich beteiligte sich aktiv am Konzert der europäischen Mächte. Mit den einst verhassten Habsburgern schlossen die Osmanen eine Allianz gegen Russland, mit dem alten Partner Frankreich kam es nach der dortigen Revolution zum Bruch. Auch wirtschaftlich war das Osmanische Reich eng in das europäische System eingebunden – wenngleich vor allen Dingen als zinspflichtiger Schuldner und günstiger Absatzmarkt. Oft unter Schmerzen und gegen große Widerstände wurden europäische Vorbilder adaptiert: etwa eine Verfassung, eine moderne Armee, Universitäten, eine freie Presse. Osmanische Knaben wurden zum Studium in die europäischen Hauptstädte geschickt.
»Das Osmanische Reich erwies sich als überlebensfähig. «
Christoph Neumann,
Historiker und Turkologe
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Mustafa Kemal Atatürks (Bildmitte) zum Teil rigorose Politik machte die Türkei zu einem der fortschrittlichsten islamischen Länder.
Verspotteten die Europäer das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert auch als »kranken Mann am Bosporus«, dessen Macht und territorialer Bestand stetig schrumpfte, so sank es doch nie auf einen kolonialen Status hinab, vermochte es seinen institutionellen Fortbestand und seine Souveränität zu wahren. Bis der Osmanenstaat in einen Konflikt geriet, dem auch zahlreiche andere Monarchien Europas zum Opfer fielen. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg konnte das Reich nicht mehr verkraften, die über 600-jährige osmanische Geschichte ging am 29. Oktober 1923 zu Ende. Mustafa Kemal Atatürk, der als Gründer der Republik Türkei zum Erben der Osmanen wurde, schlug erfolgreich den Weg von Säkularismus, Nationalismus und Modernisierung ein. Heute gehört die Türkei zu den fortschrittlichsten islamischen Ländern. Ohne das Osmanische Reich aber, das über Jahrhunderte in Krieg und Frieden mit Europa in enger Verbindung stand, wäre dies kaum möglich gewesen.
Dschihad für den Kaiser
Aufstand der Gotteskrieger
Der Angriff erfolgte im Morgengrauen des 26. Januar 1885. 50 000 Gotteskrieger rannten gegen die Befestigungen von Khartum an. Zuvor war die Stadt am Weißen Nil im heutigen Sudan schon fast ein Jahr lang von den Truppen des Mahdi belagert worden. Aber da eine britische Entsatzarmee im Anmarsch war, wollte der islamische Heerführer keine Zeit mehr verlieren. Ein Verräter in der Stadt kam den Angreifern zu Hilfe und öffnete eines der Tore. Über Khartum brach ein Inferno herein. Der britische Gouverneur Lord Gordon fiel im Kampf auf der Treppe seines Regierungsgebäudes. Seine ägyptischen Garnisonseinheiten wurden bis auf den letzten Mann niedergemacht. Die Sieger verschonten auch die Einwohner der Stadt nicht. Viele wurden in ihren Häusern erschlagen, die Überlebenden – Frauen und Kinder – in die Sklaverei verschleppt.
Das Massaker wirkte auf England wie ein lähmender Albtraum. Nicht nur in London war man schockiert. Das mächtigste Reich, das jemals auf der Erde existierte, das Britische Empire, in die Knie gezwungen von einer zusammengewürfelten Armee? Besiegt von schlecht bewaffneten Stammeskriegern, die von dem Sohn eines Bootsbauers angeführt wurden? Wie war das möglich?
Der Mann, der die Briten das Fürchten lehrte, hieß Muhammad Ahmad. In den Augen seiner Anhänger war er kein gewöhnlicher Mensch, sondern ein Gesandter Allahs, der »Mahdi«. Ähnlich wie die jüdische Religion kennt auch der Islam die Vorstellung eines Messias, der am Ende der Zeiten von Gott geschickt wird, um die Mächte des Guten in den Endkampf
gegen jene des Bösen zu führen. Im Lauf der Geschichte wurden immer wieder Männer mit dieser Figur identifiziert. Doch keiner errang eine solche Machtfülle wie Muhammad Ahmad.
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Das Ende Lord Gordons schockierte die britische Öffentlichkeit.
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Muhammad Ahmad (1844 – 1885), »der »Mahdi«, besiegte die Briten.
Der politische Hintergrund seines Aufstands waren die verworrenen Verhältnisse in einer Region, die bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist: dem Sudan. Damals gehörten Teile des afrikanischen Landes zu Ägypten. Dessen Staatsoberhaupt, der Khedive oder Vizekönig, war nominell ein Untertan des osmanischen Sultans, in Wirklichkeit aber weitgehend unabhängig von der Hohen Pforte. Stattdessen hatten sich seit einigen Jahren die Briten im Land breitgemacht. Denn durch Ägypten verlief die wirtschaftliche Schlagader des Empire, der Sueskanal. Die Wasserstraße, die den Seeweg nach Indien um viele Wochen abkürzte, war
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