Der Heilige Krieg
zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird!«
»Meine persönliche Empfindung beim Verlassen der Heiligen Stadt war, daß ich mich tief beschämt den Moslems gegenüber fühlte, und daß ich, wenn ich ohne Religion dorthin gekommen wäre, sicherlich Mohammedaner geworden wäre.«
Wilhelm II. in einem Brief an den russischen Zaren Nikolaus II., 1898
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Theodor Herzls Anliegen war für Wilhelm nur Nebensache.
Dem damaligen deutschen Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow war klar, dass die Rede für einigen Wirbel sorgen würde, doch konnte er die Veröffentlichung nicht verhindern. In London und Sankt Petersburg fasste man die Äußerungen Wilhelms als massive Einmischung in die inneren Angelegenheiten auf. Denn sowohl im Empire als auch im Zarenreich lebten Abermillionen Muslime. Man stelle sich nur vor, ein europäischer Monarch hätte sich damals zum Schutzherrn der deutschen Katholiken aufgeschwungen. Ähnlich provokativ wirkten die Worte des Kaisers.
Auch im Reich war das publizistische Echo der Kaiserreise gewaltig. Viele Aspekte des deutschen Engagements im Orient wurden beleuchtet, über manches spekuliert. Aber niemand hätte für möglich gehalten, dass eine Randfigur auf der Bühne der großen Politik Jahrzehnte später einmal ganz im Zentrum der Ereignisse stehen würde – zumindest ihre politische Vision.
Der jüdische Journalist Theodor Herzl war dem Kaiser nachgereist. Als führender Kopf der zionistischen Bewegung hatte er eine kühne Vision: die Errichtung eines jüdischen Staates auf biblischem Boden in Palästina.
Dafür wollte er den Kaiser gewinnen. Seine Majestät empfing Herzl, den er bereits kannte, sogar zweimal. Herzl hoffte, in Wilhelm einen Fürsprecher der zionistischen Idee gefunden zu haben. Der Kaiser sollte den Sultan dazu überreden, jüdischen Immigranten die Einreise nach Palästina zu erlauben. Noch besser wäre es gar, wenn das Deutsche Reich ein Protektorat über Palästina übernähme. So würden die Deutschen zur Schutzmacht der zukünftigen jüdischen Nation. Der Kaiser stand dieser Idee durchaus nicht ablehnend gegenüber. Allerdings hielt er sie für unvereinbar mit den türkischen Interessen, und er wollte auf keinen Fall den Sultan brüskieren. Mit freundlichen, aber unverbindlichen Worten wurde Herzl vom Kaiser verabschiedet. Der jüdische Staat war für Wilhelm II. Nebensache. An erster Stelle war er fest entschlossen, dem Sultan die Hand zu reichen – und nicht nur diesem, sondern auch der ganzen islamischen Welt.
Mit Volldampf zum Euphrat
Die Umarmung der Muslime entsprang keineswegs nur dem Überschwang des Augenblicks; sie war weit mehr als eine herzliche Dankesgeste gegenüber dem Gastgeber. Dahinter stand handfestes politisches und nicht zuletzt auch wirtschaftliches Kalkül.
Denn das im Vergleich zu England und Frankreich junge Deutsche Reich war nicht nur aus Sicht des Kaisers bei der Verteilung der Welt zu spät gekommen. Neidvoll schauten viele Deutsche auf das britische Imperium. Auch die Franzosen hatten sich in Afrika und Südostasien breitgemacht. Und selbst die kleinen Niederlande waren im Besitz einer riesigen Kolonie in Indonesien, deren Bevölkerungszahl die des Mutterlands weit überstieg. Als das Deutsche Reich über die Stärke verfügte, ähnliche Ambitionen in die Tat umzusetzen, war der Kuchen schon verteilt. Einige Gebiete in Afrika, ein paar versprengte Atolle im Pazifischen Ozean – viel mehr war nicht zu holen. Über den lukrativsten Gegenden der Welt wehte schon seit Langem der Union Jack.
Die Briten hatten das System des Kolonialismus perfektioniert. Vor
allem Indien, über das Queen Victoria als Kaiserin herrschte, wurde im späten 19. Jahrhundert zur tragenden Säule der englischen Wirtschaft. Die Kolonie lieferte billige Rohstoffe wie Baumwolle, die im Heimatland verarbeitet wurde. Die gigantischen Spinnereien in Manchester und anderen englischen Städten produzierten Textilien in Mengen, die den heimischen Markt weit überfordert hätten. Die Überproduktion konnte aber wieder in der Kolonie abgesetzt werden. Es war ein – aus Sicht der Kolonialmächte – perfektes System, von dem vor allem die heimischen Industrien profitierten, während die ökonomische Entwicklung in den beherrschten Ländern stagnierte und sogar bewusst unterbunden wurde.
An diesem lukrativen Geschäft hätte auch das Deutsche Reich gerne partizipiert. Denn die Industrie an Rhein und Ruhr lechzte nach Absatzmärkten für ihre
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