Der Heilige Krieg
überbordende Produktion. Binnen nur zwei Jahrzehnten nach der Reichsgründung hatte die deutsche Wirtschaft die britische schon teilweise überflügelt. »Made in Germany« hatte Weltgeltung erlangt. Doch wohin mit all dem Stahl, den Maschinen, Eisenbahnen, Schiffen und Kanonen? Die europäischen Nachbarn schirmten ihre Märkte mit Importzöllen ab. Aber hatte nicht das gewaltige Osmanische Reich Bedarf an allem, was die glühenden Schlünde der Stahlwerke ausspuckten?
Nicht anders als heute waren auch vor hundert Jahren die Politiker Handelsvertreter ihrer Nationen. Die Visite Kaiser Wilhelms II. bei der Hohen Pforte diente nicht nur dem Aufbau gedeihlicher politischer Beziehungen. Auch Krupp und andere sollten von der Begegnung in Konstantinopel profitieren. Worauf die Industriegiganten hofften, war nicht weniger als ein Jahrhundertauftrag: die Erschließung des Osmanischen Reiches durch Eisenbahnlinien!
Bereits 1888 hatte ein Konsortium deutscher Banken unter Vorsitz von Georg von Siemens die Konzession zum Bau eines Schienenstrangs in Anatolien erworben – ein ziemlich riskantes Geschäft: Zwar sicherte die Türkei eine Verzinsung des eingesetzten Kapitals zu, doch wie viel waren die Verträge wert? Otto von Bismarck hatte dem Projekt zugestimmt, gleichwohl unverhohlen erklärt, dass das Reich keine Versicherungen übernehmen werde.
Doch getragen von einer Welle der Euphorie, waren Banken und Industrie zu dem Risiko bereit. Und Großaufträge ließen nicht lange auf sich
warten. Denn das gesamte Material für den Bau wurde aus Deutschland herangeschafft. Illustre Namen standen auf der Lieferantenliste: Krupp, Krauss, Maffei, Borsig, Henschel und andere. Planung und Bau der Trasse wurden von der Frankfurter Firma Philipp Holzmann durchgeführt, die auch den noch heute eindrucksvollen Bahnhof Haydarpaşa in Istanbul errichtete.
»Also Volldampf vorwärts nach Euphrat und Tigris und nach dem persischen Meer und damit der Landweg nach Indien wieder in die Hände falle, in die er allein gehört, in die kampf- und arbeitsfreudigen deutschen Hände.«
Aus den Alldeutschen Blättern , 1889
Zwar reichte die anatolische Eisenbahn nur bis Konya und war noch fast 2000 Kilometer vom Persischen Golf entfernt, doch das Projekt, eine Bahnlinie bis in den äußersten Südosten des Osmanischen Reiches voranzutreiben, geisterte als Zukunftsvision bereits durch deutsche und türkische Planungsbüros.
Als der Kaiser 1898 mit großem Pomp von seiner Orientreise nach Berlin zurückkehrte, hatte er zwar noch keinen Vertrag in der Tasche, aber doch immerhin eine mündliche Zusage des Sultans bezüglich der Fortsetzung der Bauarbeiten von Konya bis Bagdad.
Das als »Welttat« gefeierte Mammutprojekt sollte die größte Auslandsinvestition des Deutschen Reiches werden: eine 1600 Kilometer lange Trasse durch Gebirge, über abgrundtiefe Täler, über reißende Flüsse und durch glutheiße Wüsten. Innerhalb von 16 Jahren lieferte die deutsche Industrie 200 Lokomotiven und rund 3500 Personen- oder Güterwaggons, dazu Schienen und Schwellen für die Gleisanlagen. Das Investorenkonsortium sollte dafür 99 Jahre lang die Einnahmen aus dem Bahnverkehr und die Ölbohrrechte auf 20 Kilometer beiderseits der Trasse erhalten.
Finanziert wurde das Ganze mittels Ausgabe türkischer Staatsanleihen, die durch die Deutsche Bank vertrieben wurden. Hier freilich lag ein Problem. Anders als bei der anatolischen Bahn, deren Bau und die damit verbundenen Risiken überschaubar waren, besaß die Bagdadbahn unkalkulierbare Dimensionen. Nicht zuletzt konnte niemand garantieren, dass die aus dem Betrieb der Bahn prognostizierten Gewinne jemals die immensen Kosten decken würden. Deshalb war Georg von Siemens als verantwortlicher Direktor der Deutschen Bank auch nur durch sanften, aber unnachgiebigen Druck des Kaisers dazu zu bewegen, das Vorhaben zu unterstützen. Denn die zu bewältigenden Schwierigkeiten waren gigantisch. Vor allem das Taurusgebirge machte den Ingenieuren schwer zu schaffen. Nicht weniger als 37 Tunnel mit einer Gesamtlänge von 20 Kilometern mussten in den Fels gesprengt werden, dazu kamen Dutzende von Brücken mit zum Teil schwindelerregenden Höhen. Die Bauarbeiten stellten auch eine logistische Herausforderung dar. Denn die Trassen verliefen zum Teil durch menschenleere Regionen ohne jede Infrastruktur, in denen tausende Arbeiter versorgt und untergebracht werden mussten. Daher gilt die Bagdadbahn bis heute als eine der großen
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