Der heilige Schein
wörtlich nehmen, kommt man also nicht umhin, das Zeitbedingte, durch damalige gesellschaftliche Konvention in die Bibel Geratene von den Grundbotschaften zu unterscheiden. Aufgabe der Kirche und des Lehramtes wird es dann sein, das zeitlos Gültige neu in Erinnerung zu bringen, es aber vom Ballast längst überholter Traditionalismen zu befreien.
Im Grunde genommen hat die Kirche dies, wenn auch teilweise sehr zögerlich, immer getan. Ein gutes Beispiel dafür ist das Zinsnahmeverbot in der Alten Kirche und in der des Mittelalters, von dem man sich unter dem Druck der modernen Gesellschaft verabschiedet hat. Heute sind sowohl der Vatikan als auch die Ortskirchen im Bankengeschäft, das auf Zinsnahme basiert, äußerst aktiv. Wie der italienische Journalist Curzio Maltese in seinem jüngsten Buch über die Finanzgeschäfte des Vatikans mit dem Titel Scheinheilige Geschäfte nachweist, ist man auch hier bemüht, die intransparenten, häufig am Rande der Legalität angesiedelten Transaktionen durch den frommen Schein der Wohltätigkeit zu kaschieren. Auch das Zinsnahmeverbot hat seine Wurzeln in einem der fünf Bücher Mose. In Levitikus 25,36-37 heißt es: »Du sollst nicht Zins von ihm [deinem Bruder] nehmen und sollst dich fürchten vor deinem Gott, damit dein Bruder neben dir lebt. Dein Geld sollst du ihm nicht gegen Zins geben, und deine Nahrungsmittel sollst du nicht gegen Aufschlag geben.« Spätestens seit dem 12. Jahrhundert galt es deshalb in der katholischen Kirche als unabänderliches, von einer Vielzahl (unfehlbarer!) Päpste und von Theologen immer wieder bestätigtes Gebot, dass Christen das Zinsnehmen streng verboten ist. Wer diesem Gebot zuwiderhandelte, beging eine schwere Sünde. Aber die Welt änderte sich: Ab dem 15. Jahrhundert wurde das Verbot von den weltlichen Herrschern zunehmend umgangen, teilweise sogar aufgehoben. Mehrere Jahrhunderte später war dann auch die katholische Kirche so weit, dass sie das Verbot 1830 ohne großes Aufsehen aufhob. Nur interessierte das zu dem Zeitpunkt niemanden mehr. Über die Jahrhunderte hatten sich nämlich - zum Beispiel bei geistlichen Ritterorden - Verfahren herausgebildet, mit denen man das Verbot geschickt umgehen konnte, ohne es offiziell zu missachten. Auch hier schadete das Festhalten am heiligen Schein der Autorität der Kirchenfürsten auf längere Sicht ganz erheblich. Ähnliches ließe sich im Zusammenhang mit dem Fall Galilei sagen.
Ein mutiger, historisch-kritischer Zugang zu ihren heiligen Schriften könnte der Kirche helfen, heute schneller Einsicht zu zeigen. Sie müsste dann in einem ersten Schritt zum Beispiel fragen: Wo liegen die historischen Gründe dafür, dass die Bibel an einigen Stellen Homosexualität oder Frauen in sakralen Ämtern verbietet? Mit Hilfe der modernen Wissenschaft würde man dann sehr schnell entdecken, dass diese beiden biblischen Verbote auf der Abgrenzung von den »Ungläubigen« beruhen. Zunächst wollte man sich von kanaanäischen religiösen Bräuchen, die männliche Tempelprostitution einschlossen, und den weiblichen Priesterinnen bei den »Heiden« distanzieren, später - bei Paulus - ging es dann um die schroffe Abgrenzung von der hellenistischen Kultur und ihrem Kaiserkult.
Man muss kein Wissenschaftler sein, um zu erkennen, dass unsere heutige Lebenswirklichkeit sich deutlich von der der Antike unterscheidet, die Christen sich also nicht mehr von den Baals-Priesterinnen aus Babylon oder vom altrömischen Umgang mit Homosexualität distanzieren müssen. So wie katholische Gläubige spätestens seit Erfindung des Kühlschranks bedenkenlos Schweinefleisch und Schalentiere essen können, so könnte sich die Kirche durch einen wissenschaftlichen Umgang mit ihren Glaubensquellen problemlos von der Last vieler ihrer grundlos gewordenen Gebote befreien. Eine Kirche, die den Weg der Offenheit geht, müsste das auch tun, denn durch das starre Festhalten an längst hinfällig gewordenen Regeln wird in den Augen der Gläubigen nicht nur die Kirche, sondern auch die christliche Botschaft in Misskredit gebracht.
Wenn die katholische Kirche sich nicht mehr über obsolet gewordene moralische Vorstellungen, sondern über die Grundlagen der Botschaft Jesu definieren würde, könnte sie ein ganz neues Selbstbild entwickeln, das sich vor allem auf die großen Grundgedanken des Evangeliums stützen würde. Aus dem Mund Jesu finden wir keine einzige Aussage zum Thema Homosexualität oder Zölibat. Würde die Kirche sich an
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