Der heilige Schein
traditionell-katholischen Lager herrsche. Auch ich hatte bereits die Erfahrung dieses Bildungsdefizits machen müssen. Nicht nur in Gesprächen mit Dozenten und Studenten in Zaitzkofen und St. Pölten, auch in den Fragestunden im Anschluss an Vorträge war ich immer wieder erstaunt, welch eindimensionales, dumpfes Denken hier vorherrschte. Wissenschaftlichkeit galt als verdächtig, da sie angeblich von der Frömmigkeit und vom Gebet ablenkte und immer die Gefahr von Kritik und Ketzerei heraufbeschwor. Ein Dozent, der an einem dieser Priesterseminare lehrte, erklärte mir gegenüber einmal: »Die Frommen sind dumm und die Intelligenten leider nicht fromm.« So schade er es finde, aber da sei ihm die erste Variante lieber.
Praktisch die ganze deutschsprachige wissenschaftliche Theologie bzw. alle wichtigen deutschen Universitätslehrstühle für Theologie seien fest in progressistischer, papstkritischer bis papstfeindlicher Hand, klagte man im Kaminzimmer . Dafür habe der Rahner-Schüler Karl Lehmann, der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, schon gesorgt. Ähnlich sehe es in den philosophischen Fakultäten aus, die für ein sinnvolles Theologiestudium unerlässlich seien. So sei die dringend notwendige geistige Gegenrevolution in Kirche und Gesellschaft kaum zu gewinnen.
Alma von Stockhausen blickte mich durchdringend an, als sie ihr Fazit zog: Dringender als jemals zuvor brauche es junge, geisteskräftige Gelehrte, die die großen Philosophen und Theologen, allen voran Thomas von Aquin, wiederentdeckten. In eine ähnliche Richtung bestärkte mich der polnische Pater während eines langen Spaziergangs durch den Schwarzwald.
Seine Worte und die der Baronin verfehlten ihre Wirkung auf mich nicht. Die mir vermittelte Vorstellung, dass ich für diese Aufgabe gleichsam von einer höheren Macht und zum Wohle der Kirche ausersehen sei, spornte mich an. Wieder zu Hause in Köln kramte ich die verstaubten Werke des Aquinaten hervor und war zunächst tief beeindruckt von der hohen Geistigkeit, mit der er schrieb.
Mehrere Aspekte scheinen mir aufgrund eigener Erfahrungen und zahlreicher Gespräche mit anderen Thomisten wichtig, um die Begeisterung für Thomas zu erklären: Zunächst findet man hier eine geistige Sphäre vor, die durch ihre vornehme Intellektualität einen echten Gegensatz zum konservativ-katholischen Milieu mit seiner Angst vor jeder Anstrengung des Denkens darstellt. Die ruhige Sachlichkeit seines Argumentierens hat so gar nichts mit der Polemik und der Flucht in esoterisches Gedankengut zu tun, die man bei konservativ-katholischen Menschen so häufig beobachten kann.
Zugleich birgt der Thomismus als Alternative zur intellektuellen Anspruchslosigkeit vieler Traditionalisten keinerlei Gefahr, erfreut sich doch die Berufung auf Thomas von Aquin innerhalb dieser Kreise größter Beliebtheit. Schließlich waren es gerade die vorkonziliaren Päpste, die dessen Bedeutung stets unterstrichen hatten. Immer wieder hörte ich von konservativen Katholiken einen Spruch, der auf Papst Pius X. zurückgeht: »Die wirkungsvollste geistige Waffe gegen den Modernismus ist die Philosophie des Thomas von Aquin.« Dass Thomas in seiner Zeit einer der modernsten, revolutionärsten Theologen war, klammert man dabei - nach dem Vorbild der Päpste der pianischen Epoche - völlig aus.
Doch nun zurück zur Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Homosexualität und der Vorliebe für den Thomismus gibt. Ich glaube heute, dass sich diese Frage mit einem eindeutigen Ja beantworten lässt.
Die Art, wie der Aquinate denkt, kommt vielen homosexuellen Thomisten persönlich zustatten. Seine gesamte Philosophie und Theologie sind konsequent objektivistisch und selbstvergessen. Er theologisiert niemals »von unten«, vom Menschen, sondern immer »von oben«, von Gott und der Offenbarung her. Im Gegensatz zu anderen Theologen der Kirchengeschichte spielen seine Person und seine Individualität in seinem Werk keine Rolle. Ein Genre wie die berühmten Confessiones des antiken Kirchenvaters Augustinus, wo dieser von den Sünden seines Jugendlebens berichtet, ist Thomas’ Art zu schreiben zutiefst entgegengesetzt. Vergeblich sucht man in seinen Büchern nach religiösen Gefühlen, Frömmigkeit, Zweifeln oder Sünden des Autors. Das dürfte auch der Grund sein, warum man Thomas wenige Jahre nach seinem Tod im Jahr 1274 problemlos zum Heiligsten aller Theologen, zum »Doctor Angelicus« oder engelgleichen Lehrer hochstilisieren
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