Der heilige Schein
in den seltenen Fällen, in denen jemand genauer nachfragte, gab ich ihn als meinen Cousin aus. Letzteres bewährte sich so sehr, dass ich fortan häufiger davon Gebrauch machte.
Oftmals verrieten Gesten oder Blicke meiner Gesprächspartner, dass sie durchaus bemerkt hatten, dass der Mann, der mich begleitete, sich bei Veranstaltungen äußerst fürsorglich um mich kümmerte und im Übrigen keinerlei Kennzeichen eines verwandtschaftlichen Verhältnisses aufwies, dass dieser Mann mit mir zusammenlebte und keineswegs mein Cousin war. Dennoch gab man sich mit der Erklärung zufrieden. Nach außen hin wurde dadurch der notwendige Schein gewahrt. Die Illusion der katholischen Märchenwelt, nach der es im Reich Gottes nur Heterosexuelle und Priester gibt, blieb unangetastet.
Das Wissen von dem, was nie ausgesprochen wurde, verschaffte den willig Getäuschten aber einen Vorteil, von dem in den nächsten Kapiteln noch die Rede sein wird.
Originell ist die Idee, ein verwandtschaftliches oder anderweitig »unverdächtiges« Verhältnis vorzutäuschen, freilich nicht: Immer wieder habe ich Priester und auch Laien kennengelernt, die sich mit dieser Methode sehr erfolgreich durchs Leben schlugen. Geliebte werden da in der Öffentlichkeit als Schwestern oder Pfarrhaushälterinnen, bei an der Universität tätigen Klerikern auch als Sekretärinnen vorgestellt. Eine lesbische katholische Religionslehrerin erklärte die Wohngemeinschaft mit ihrer Partnerin kurzerhand zu einer Art Kloster und konnte so im Schuldienst Karriere machen. Ein Priester gab seinen wesentlich jüngeren Partner, der ihn jedes Wochenende im Pfarrhaus besuchte, als seinen Neffen aus. In der Öffentlichkeit und bei den Kontrollinstanzen der Kirche gibt man sich mit dem so erzeugten äußeren Schein meist zufrieden und beruft sich sehr bequem auf das neue Kirchenrecht von 1983, wo es heißt: »Niemand darf ... das Recht einer Person auf den Schutz der eigenen Intimsphäre verletzen.« [34]
Später erfuhr ich von dem niederländischen Thomisten und Philosophieprofessor Leo Eiders , dass es im Vorfeld des Kongresses offensichtlich Bedenken gegen meine Ernennung gegeben hatte. Begründet wurden diese mit meinem viel zu jugendlichen Alter - ich war damals zweiunddreißig - und meinem Status als unverheirateter Laie.
Interessanterweise war einer derjenigen, die Bedenken geäußert hatten, ein dem konservativen Katholizismus zuzurechnender, in Rom lehrender älterer Professor. Wir kannten uns schon, und so hatten wir auch während der ersten Tage des Thomistenkongresses einige längere Gespräche geführt. Dabei hatte er mich immer mit einer devot-aufdringlichen, unterwürfigen Freundlichkeit behandelt. Nicht nur ich hatte den Eindruck gewonnen, dass er, ebenfalls Laie und unverheiratet, zumindest homophil veranlagt war. Später fiel mir freilich auf, dass er, wenn wir uns zufällig begegneten oder von weitem sahen, stets die Flucht ergriff. Je mehr ich über die Sache nachdachte, desto mehr verdichtete sich bei mir die Vermutung, dass das äußerst seltsame Verhalten des älteren Herrn, das auch anderen auffiel, auf eine verdrängte homosexuelle Neigung zurückzuführen sein könnte.
Abgesehen von diesen erfolglosen Interventionen im Vorfeld meiner Berufung in die Akademie hatte ich den Eindruck, dass es damals gerade meine Jugendlichkeit war, die bei älteren Geistlichen gut ankam und die - neben meinen Verdiensten um den konservativen Katholizismus und dessen wissenschaftliche »Renovierung« mit Hilfe des Thomas von Aquin - zu meinem raschen Erfolg in diesen vatikanischen Kreisen ganz wesentlich beitrug.
Um Missverständnissen vorzubeugen, es ging hier nicht (wie in manchen Institutionen der katholischen Kirche seit vielen Jahrhunderten nicht unüblich) um Ämter, die man erst nach vorab erfolgter eindeutig sexueller Gegenleistung erhält. Vielmehr handelte es sich um eine allgemeine, auf meinem jugendlichen Auftreten und Aussehen basierende Sympathie, die manche Prälaten mir gegenüber empfanden und die ihre Bereitschaft erhöhte, mir zu bestimmten prestigeträchtigen Ämtern zu verhelfen.
So erinnere ich mich gut daran, wie mir einmal ein älteres Mitglied der Päpstlichen Thomas-Akademie zärtlich über die Wangen strich und mir überschwängliche Komplimente zu meinem Aussehen und meinem jugendlichen Alter machte. Überhaupt zeigte man mir immer wieder durch eindeutige Blicke, durch Umarmungen, Streicheln der Oberarme, übermäßig langes Festhalten
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